Interessanterweise forderte gerade der Journalist und Blogger Sascha Lobo eine digitale Herzensbildung: „Bildung ohne Herzensbildung ist nichts wert. Im Gegenteil, sie stellt den direkten Weg in die Entzivilisierung der Gesellschaft dar.“ Herzensbildung sei die Voraussetzung, um den aktuellen Hasstiraden im Netz vorzubeugen, ein Schulfach Interneterziehung wäre ein erster Schritt, schrieb er bereits vor einigen Jahren in seiner Kolumne für Spiegel Online „Die Mensch-Maschine“.
Intellektuelle und emotionale Bildung
„Herzensbildung“ ist ein heute kaum mehr verwendeter Begriff, der auf die deutsche Klassik zurückgeht. Der Duden definiert Herzensbildung als ein „durch Erziehung erworbener Besitz einer reichen und differenzierten Gefühls- und Empfindungsfähigkeit“. Dem zugrunde liegt das Verständnis, dass Gefühle formbar und erlernbar sind. Zwar war die Bildung des Herzens, also der Gefühle, oft von einem Ideal geprägt und die Realität sah anders aus, doch seit der Antike waren Verstand und Emotionen ein wichtiger Teil der menschlichen Entwicklung. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschwanden die Emotionen aus den pädagogischen Konzepten. Dieses Jahrhundert war geprägt von dem Verständnis der kartesianischen Trennung von Körper und Geist: Die Bildung galt der Ausbildung des Verstandes. Emotionen in Form von Leidenschaften und Lüsten wurden für diese Entwicklung als hinderlich angesehen. Man setzte Emotionalität mit Irrationalität gleich – Bildung, verstanden als intellektuelle Entwicklung, orientierte sich an Inhalten.
Soziale und emotionale Skills - Basis für ein erfolgreiches Leben
Erst seit der Wende zum 21. Jahrhundert – auch Emotional Turn genannt – gewinnen Emotionen wieder eine entscheidende Rolle in der Bildung zurück. Wissenschaftliche Studien arbeiten heraus, welche immens wichtige Bedeutung emotionale Fähigkeiten für die menschliche Entwicklung haben. Eine Langzeitstudie der Penn State und der Duke University, die 2015 im „American Journal of Public Health“ publiziert wurde, kommt zu dem Schluss, dass sozial-emotionale Fähigkeiten im Kindergartenalter einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung von jungen Erwachsenen in verschiedenen Bereichen wie Bildung, Arbeit, kriminelle Aktivität, Drogenkonsum und psychische Gesundheit haben. Die Forscher erhoben die hierfür relevanten Daten, als die Kinder noch im Kindergarten
„Für die Zukunft eines Kindes sind emotionale und soziale Fähigkeiten entscheidender als kognitive.“
waren, und dann 19 Jahre später, als sie alle circa 25 Jahre alt waren. In einer Analyse der Studie schlussfolgert die US-amerikanische Psychotherapeutin Amy Morin, dass emotionale und soziale Fähigkeiten wichtiger als kognitive Fähigkeiten für die Zukunft eines Kindes seien. Es ist weniger entscheidend, wie gut ein Kind lesen und schreiben lernt, sondern welche Skills es im Umgang mit anderen Kindern an den Tag legt: vor allem, ob es Dinge mit anderen teilt, ihnen zuhört, ob es hilfsbereit ist und Probleme löst. Heute liegt die Förderung dieser sozialen und emotionalen Kompetenzen noch in erster Linie in den Händen der Eltern und Erziehungsberechtigten – das heutige Bildungssystem, vor allem die Schulen, ist in den meisten Fällen noch auf die Vermittlung kognitiver Kompetenzen, also inhaltliches Wissen, beschränkt. Hier gilt es Defizite aufzuholen, um mit der Entwicklung der Gesellschaft im emotionalen Zeitalter Schritt zu halten.