Mehr als Memes: Freie Kreativität im Netz

Kreativität löst sich wieder von ihrer Funktion, ökonomisch erfolgreiche Innovationen zu produzieren. Sie findet wieder mehr Raum im Wir, das gestalten möchte, und weniger im Ich, das sich darstellen muss. Der sich ankündigende Bedeutungswandel von Kreativität lässt sich exemplarisch an der jungen Internetkultur ablesen. – Ein Auszug aus der Trendstudie Free Creativity.

Von Lena Papasabbas

Foto: My Life through a Lens/Unsplash

Kreativität als Ausdruck von Wir-Kultur

Viele können heute schon im Teenageralter eigene Memes, GIFs, TikToks, Tweets, Podcasts, Youtube-Videos usw. kreieren. Hier löst sich Kreativität zusehends von ihrer Kapitalisierung und ihrer Funktion als Ausdruck von Individualität. Für kreative Memes und GIFs werden Motive, Bilder, Wortfetzen, Songzeilen, Text und Video hemmungslos kopiert, variiert, zerstückelt, in neue Kontexte gesetzt und weiterverbreitet, ohne dass die Urheberschaft eine Rolle spielt. Einzig wichtiges Kriterium für den Erfolg solcher kreativen Werke ist deren Sinnhaftigkeit innerhalb der Community. Sie müssen sich sinnvoll aufeinander beziehen, neue Sichtweisen oder Informationen bieten oder einen geteilten Humor vermitteln können. Hierbei tritt das Wir in den Vordergrund.

Gegen das System

Dieser nie versiegende Strom kreativer Ergüsse bietet einem Netz die Stirn, das neben Hate Speech, Datenkraken, Selbstinszenierungsmaschinerien und Fake News vor allem eine Verlängerung der kapitalistisch geprägten Konsumgesellschaft ist: Social Media ist heute zunehmend nur Vertriebskanal; Streamingdienste, Mobile Shopping, Sprach-Interfaces und Same Day Delivery tragen den Konsum noch näher ins intimste Alltagsleben der Menschen. „Das Netz von heute ist kein Gegenentwurf mehr zum bestehenden System: Es ist das System. Ein sehr ernstes, auf Selbstoptimierung, Ich-Vermarktung und Konsum abgerichtetes System.“ Amazon und Co. haben Konsum endgültig zum Lebenssinn erklärt und soziale Medien den Eifer der Selbstoptimierung und -inszenierung auf die Spitze getrieben. Auch ist das Internet für die meisten kein Fenster zur Welt: „Es ist ein Spiegel, in dem wir immer nur uns selbst sehen, unsere Interessen, Wünsche, Begehren“, beschreibt es der Kunsttheoretiker Boris Groys.

Demokratische und partizipative Kreativität

Die jungen Kreativen im Netz jedoch emanzipieren sich von der Rolle des passiven Konsumenten von Waren und Inhalten. Sie sind weniger anfällig für die Manipulation durch Algorithmen und perfide Personalisierungen. Sie sind selbst Gestalter des Netzes. Sie bringen eine neue, eine demokratischere und partizipativere Form der Kreativität ein, in der es weder um Selbstoptimierung noch Individualisierung oder Profitmaximierung geht, sondern um das „Wir“. Das klare Sender-Empfänger-Verhältnis löst sich auf, die Rollen von Schaffenden, Teilenden und Konsumierenden verschwimmen. In ihrem Umgang mit Kreativität steht die Zugehörigkeit im Mittelpunkt, die Abgrenzung tritt in den Hintergrund.

Memes mit Messages

Erfolgreich sind digitale Kunstwerke oder Schnipsel dann, wenn sie von der Community aufgenommen, weiterverwendet, remixed und neu kontextualisiert werden. Die Urheberschaft ist dabei nicht zentral. Sich durchsetzende kreative Internet-Memes, wie das 2019  international virale „Ok Boomer“, zeigen, dass es bei Internet-Memes nicht allein um Humor geht – es geht auch um neue Werte.

Ein großer Teil des „Ok Boomer“-Contents handelt von der Ablehnung einer konservativen Haltung mit starren Glaubenssätzen, die der sogenannten Baby-Boomer-Generation vorgeworfen wird. In dem „Ok Boomer“-Meme geht es jedoch nicht Digitale Kunstwerke sind dann erfolgreich, wenn sie von der Community aufgenommen, weiterverwendet, remixed und neu kontextualisiert werden. darum, Menschen eines bestimmten Alters zu kritisieren, sondern eine bestimmte Haltung, die sich in erster Linie als konservativ beschreiben lässt, verbunden mit der Weigerung, eigene Glaubenssätze zu hinterfragen und sich neuen Sichtweisen zu öffnen. „Ok Boomer“ wurde zum geflügelten Wort und zum Ausdruck der Frustration einer ganzen Generation, die sich mit sexistischen, rassistischen und technologiefeindlichen Denkweisen sowie mangelndem Umweltbewusstsein nicht identifizieren kann.  Diese identitätsstiftende Funktion erzeugt einen Sinn, der wiederum eng verknüpft ist mit bestimmten, geteilten Werten, die in den unzähligen Variationen des Memes ausgedrückt werden.


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Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

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