Wie funktioniert soziale Innovation?

Nach einem Jahrhundert technischer Euphorie geht es in Zukunft wieder um die „Soziotechniken“ - und damit auch um ein tieferes Verständnis sozialer Selbstorganisation.

Quelle: TREND UPDATE 08/2013

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„Innovation“ ist das magische Wort unserer Zeit. Alles soll neu werden, anders, das Karussell soll sich schnell weiterdrehen. Und im Zentrum dieser Vision liegt die Technik. Aber ist diese Vision noch realistisch? Technische Innovationen haben immer auch eine Schattenseite. Medizinische Spitzenforschung rettet Leben, bringt aber den Gesundheitssektor an den Rand des Ruins. Das Internet ermöglicht weltweite Kommunikation, züchtet aber auch Überwachung und Shitstorms.

Ausgerechnet aus den sonst so zukunfts-euphorischen USA kommt derzeit ein neuer Ton in die Zukunftsdebatte. Unüberhörbar wächst ein gewisser Skeptizismus gegenüber den Verheißungen – und realen Ergebnissen – des technischen Fortschritts. Michael Lind, ein amerikanischer Publizist und Ökonom, nennt unser Zeitalter daher auch drastisch „The Boring Age“:

„Wir mögen es, zu glauben, in einer Ära ungeheuren Wandels zu leben (...) in einer erregenden Epoche mit radikalen Disruptionen (...). Die Wahrheit ist: Wir leben in einer Periode der Stagnation. Und diese Stagnation ist gerade auf dem Feld der Technologie besonders sichtbar. Die Die Wahrheit ist: Wir leben in einer Periode der Stagnation Gadgets der Informationstechnik haben nicht im Geringsten den transformativen Effekt wie das elektrische Licht vor einem Jahrhundert, der Kühlschrank, Gasöfen und Kanalisation. Ist die Kombination von Telefon, Bildschirm und Tastatur wirklich so bahnbrechend wie der Buchdruck oder die Schreibmaschine oder das einfache Telefon oder das Fernsehen?“

Der „Economist“ griff diese Wahrnehmung auf. Auf einem der bestverkauften Titel thronte ein Mann in Denkerpose auf einer Kloschüssel, mit der Denkblase: „Werden wir jemals wieder etwas so Sinnvolles erfinden?“ Der Technologiehistoriker David Edgerton haut in dieselbe Kerbe. Im Buch „The Shock of the Old“ spricht er von einer „technologischen Amnesie“, der wir anheimfallen und mit der wir Techniken und Technologien idealisieren und überbewerten:

„Wenn wir über Informationstechnologie reden, vergessen wir das jahrhundertealte Postsystem, den Telegraphen, das Telefon, Radio und Fernsehen – bewährte Systeme, die zuverlässig teilweise über Jahrhunderte funktionierten. Wenn wir Online-Shopping feiern, vergessen wir den guten alten Katalogversand, den es schon seit zweihundert Jahren gibt. Genetic Engineering diskutieren wir, als hätte es niemals andere Wege gegeben, Tiere und Pflanzen zu verändern – die Zucht, die unsere Ernährung, unsere Haustiere, unsere ganze Art zu leben immer wieder radikal veränderte.“

In „Race against the Machine“, erschienen 2011, behaupten Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee, ausgerechnet zwei MIT-Auguren (das MIT ist eine der technikgläubigsten Institutionen der Welt), dass die technische Revolution des Internets mehr Nachteile als Vorteile bringt. Mehr Jobs werden zerstört als geschaffen, und das vor allem im Bereich kognitiver, also hochqualifizierter Berufe. Soziale Ungleichheiten werden durch die Internetrevolution verstärkt statt verringert, demokratische Strukturen eher zerstört als gestärkt. Ähnlich argumentiert der Bestseller-Autor Evgeny Morozov, der mit seinem „To save everything, click here“ eine Ketzerbibel gegen den digitalen Fortschrittsglauben geschrieben hat. Nach Morozov ist die digitale Innovationswelt getrieben vom „Solutionismus“ – einem Drang, Probleme zu lösen, die gar keine sind.

Seit einigen Jahren schreibt der Erfinder des Cyberspace, William Gibson, keine Science-Fiction mehr. Sondern nur noch Gegenwartsromane. In seinem jüngsten, auf Deutsch erschienenen Essayband schrieb Gibson:

„Alvin Toffler warnte uns vor dem Zukunftsschock – aber was ist mit der Zukunftsmüdigkeit? In den letzten zehn Jahren beharrten sämtliche Kritiker der Science-Fiction, auf deren Meinung ich etwas gebe, darauf, die Zukunft sei vorbei. Das „Alvin Toffler warnte uns vor dem Zukunftsschock – aber was ist mit der Zukunftsmüdigkeit?” klingt ein wenig albern, wie die These vom Ende der Geschichte. Aber gemeint ist natürlich nur die Zukunft, die zu meiner Zeit ein Kult, fast schon eine Religion war. Menschen in meinem Alter sind das Produkt dieser Kultur des Zukünftigen. Je jünger jemand ist, desto weniger ist er davon beeinflusst. Die 15-Jährigen leben vermutlich in einem endlosen digitalen Jetzt – einem Zustand der Zeitlosigkeit, der durch unsere immer effizienter werdende gemeinschaftliche Gedächtnisprothese ermöglicht wird.“

Sind das alles Abweichler, Nörgler, Missinterpretationen? Oder könnte etwas dran sein? Könnte die Zukunft ihr Momentum verlieren, ihre Bewegungsrichtung ändern? Und könnten ganz andere Innovationen in Zukunft wichtiger werden als die Erfindung der allerneuesten 3D-Brille mit Augmented Reality? Könnte das Soziale, das Zusammenwirken der Menschen im Sinne einer besseren Zukunft wieder spannend, ja sogar utopisch werden?

Ein Definitionsversuch

Menschen leben in sozialen Systemen, die sich im Laufe der Zeit ständig verändert haben. Das alte Stammes- und Clan-System der Jäger- und Sammlerkulturen wurde durch Sklavengesellschaften abgelöst. Die agrarische Sesshaftigkeit brachte neue Kultur-und Verwaltungsformen mit sich, denn nun entstanden dichtere Siedlungskonglomerate, die Städte, in denen Institutionen der sozialen Vermittlung entstanden.

Soziale Innovation fand also im Laufe der Geschichte immer wieder statt – das menschliche Sozialsystem passte sich den Ökonomien an und umgekehrt. Oft wurden neue Sozialordnungen von Rebellen initiiert, im Kampf gegen Herrschaft und Unterdrückung. Immer wieder entstanden Gegen-Gesellschaften, in denen neue Regelsysteme ausprobiert wurden – vom Auszug der Juden aus Ägypten bis zu den Freimaurern und Landkommunen. In gewisser Weise war die Gründung Amerikas nichts anderes als ein kontinentales soziales Groß-Experiment. Religionen oder Sekten übernahmen oft die Rolle eines sozialen Ordnungsgefäßes, in dem die verschiedenen Ebenen der menschlichen Existenz – Macht, Mythos, Kommunikation, Kooperation – in Synchronisation gebracht werden konnten. Je komplexer soziale Systeme wurden, desto komplexer mussten auch die Regelsysteme des Sozialen, die Symbol- und Kultursysteme werden. Gelang dies nicht – wie in den Hochkulturen der Maya oder anderer Pyramiden-Kulturen –, zerbrachen diese Zivilisationen.

Soziale Regelsysteme wirken als Synchronisatoren menschlicher Gemeinschaften. In ihnen wird das Wechselspiel von Interessen und Gruppen, Individuum und „Staat“ (Gemeinwesen), aber auch die symbolische und die materielle Ebene koordiniert. Peter Sloterdijk spricht von „Anthropotechnik“, die der „technischen Technik“ entsprechen muss. Als solche können wir Gesellschaften als lernende Systeme beschreiben, in denen es „Agenten“, Rückkopplungen, Vernetzungen und Rekursionen gibt. Das heißt auch: Wir können ihre Funktionalität und Dysfunktionalität analysieren. Und damit ihre Zukunft antizipieren.

Viele soziale Institutionen haben eine lange Geschichte und erlebten immer wieder Rekonfigurationen und Renaissancen – die Institution „Universität“ zum Beispiel geht bis ins Mittelalter zurück. Besonders das 17. und 18. Jahrhundert brachte mit der „Erfindung“ der modernen Demokratie eine Vielzahl von sozialen Innovationen mit sich. Am Ende des 18. Jahrhunderts entstanden fast explosionsartig jene Sozialsysteme, die bis heute unsere gesellschaftliche Realität prägen. Der Arbeiterverein als Selbstorganisation der Lohnabhängigen entwickelte sich zur Gewerkschaft. Bibliotheken und öffentliches Schulsystem schufen einen neuen Transfer von Wissen zwischen den Schichten. Sparvereine wurden zu Genossenschaftsbanken und führten zu einer neuen „Selbstverwaltung des Geldes“, deren gemeinschaftliches Prinzip sich in der Finanzkrise Viele soziale Institutionen haben eine lange Geschichte und erlebten immer wieder Rekonfigurationen und Renaissancen von 2008 erneut bewährt hat. Gesundheits- und Rentenversicherungen verteilten individuelle Risiken auf viele Schultern. Das Eherecht schuf einen rechtlichen Kontraktrahmen zwischen Mann und Frau. Die größte Sozialinnovation bestand jedoch in der allmählichen, in manchen Zeiten auch schubweisen Durchsetzung einer neuen Methode für das Sozialwesen selbst: Demokratie. Die Französische Revolution hatte den Takt einer neuen Ordnungsbildung vorgegeben, die das antike Vorbild ohne Sklaventum zu realisieren versuchte. Sozialformen entstanden, in denen statt Untertanen Bürger, statt „Pöbel“ Wähler auf die Bühne traten. Und in der sich Gewaltenteilung gegen die feudale Einheit von Macht, Gewalt und Urteil durchsetzte.

Das 20. Jahrhundert brachte dann jene sozialen Großexperimente hervor, die in Form von Tyrannis und Katharsis die Grenzen sozialer Innovationen aufzeigen sollten. Der Faschismus lässt sich, ebenso wie die mörderischen Neue- Menschen-Versuche des Kommunismus, als Versuch lesen, Gesellschaft als Totalität zu organisieren – also alle gesellschaftliche Selbstorganisation zu unterbinden, alles unter eine zentrale Kontrolle zu stellen. Top-Down-Experimente, in denen der Mensch aufs Ganze radikal „umorganisiert“ werden sollte. Bis heute sind diese Erfahrungen nicht vollständig verarbeitet, wie das ständige Comeback rechter und sozialistischer Ideologien zeigt. Heute kommt in den modernen Verwaltungsstaaten der Sozialstaat immer wieder an seine Grenzen – ohne dass daraus eine wirkliche Debatte über einen klügeren, effektiveren, systemisch verbesserten Sozialstaat entstünde. Die Medien verhindern mit ihrem auf Skandal aufgebauten Erregungs- und Polarisierungsgebaren rationale Zukunftsdebatten. Aber das Soziale entwickelt sich trotzdem weiter. Jüngste Beispiele zeigen, wie soziale Regelsysteme gleichsam über Nacht „umkippen“ können. Das Rauchverbot in öffentlichen Räumen zum Beispiel, dessen Durchsetzung noch vor zehn Jahren niemand für möglich gehalten hätte, brachte einen radikal neuen Umgang mit öffentlicher und privater Gesundheit mit sich (und erzeugte gleichzeitig einen sich selbst verstärkenden „Trend zum Nichtrauchen“). Und wer hätte vor 20 Jahren, in den Anfängen der Gay-Pride-Bewegung, gedacht, dass man heute in der Hälfte der europäischen und amerikanischen (Bundes-)Staaten als Homosexueller heiraten und sogar steuerliche Privilegien genießen kann?

Ähnlich wie technologische Innovationen setzen auch Sozialinnovationen viele graduelle „Mikroinnovationen“ voraus: Wertewandel-Prozesse, neue Kommunikationsformen, symbolische Neu-Codierungen. Erreichen diese graduellen Prozesse einen kritischen Punkt, können sich Sozialinnovationen kaskadenhaft ausbreiten und zu einem großen Freiheits- und Systemgewinn führen. Die Frauenemanzipation und ihre vielen Rückschläge zeigen jedoch auch, wie dieser Prozess immer wieder stocken kann. Was zu anhaltenden gesellschaftlichen Spannungen führen muss. Andererseits zeugen radikale Reformversuche wie Gender Mainstrea-ming von der Schwierigkeit, rational erkannte Gleichheiten „logisch und verwaltungstechnisch“ durchzusetzen.

Inklusionsmodelle: Eine neue Ära des Sozialen?

Soziale Innovationen werden von Stephan A. Jansen, Präsident der Zeppelin-Universität, so definiert:

  • 1. Kommunikative und operative Inklusion von Anspruchsgruppen
  • 2. Die Hybridisierung von Lösungsbeiträgen und -beitragenden
  • 3. Die Systemisierung von Technologien, Dienstleistungen und Geschäftsmodellen

Was bedeutet das im Einzelnen? Inklusion heißt Einbeziehung, und damit ist die Erkennung und Akzeptierung von Gruppen gemeint, die vorher nicht anspruchsberechtigt, ja bisweilen überhaupt nicht existent waren. In der konservativen Kultur kamen zum Beispiel Missbrauchsopfer gar nicht vor. Ausländer haben in einem „exklusiven“ Denken keine Rechte. Dass Frauen in der Ehe misshandelt wurden, „gab“ es einfach nicht. Den Gewerkschaften sind die Arbeitslosen im Grunde fremd. Im Definitionsrahmen der „heilen Kleinfamilie“ sind Alleinerziehende nicht als Familien definiert; folglich gilt ihnen gegenüber die Vermeidungslogik („Es sollte sie gar nicht geben“). Inklusion heißt hier, zunächst den Betrachtungsrahmen zu verschieben, in Richtung einer „Anerkennung des Anderen“. Soziale Inklusion beginnt somit mit einer Rechtedebatte, die die Definitionsmacht der alten Mehrheit infrage stellt.

Hybridisierung setzt eine ähnliche mentale Operation voraus: Wir entkoppeln den Betrachtungswinkel eines sozialen Problems von der Schuldfrage. Während in jeder deutschen Talkshow immer nur um eine Frage gestritten wird, nämlich wer „schuld“ an und „verantwortlich“ für Armut/Bildungskatastrophe/Gesundheitskrise etc. ist, rückt Hybridisierung die Kommunikation und Kooperation zwischen allen am Problem Beteiligten ins Zentrum. Reformen können nicht vom Staat allein durchgesetzt werden. Ohne Compliance, also die Einhaltung von Regeln, kann sich ein Gesundheitssystem nicht verbessern, weil gesundheitsschädliches Verhalten die Probleme immer nur verschärft. Ein neues Schulsystem ist ohne die Mitarbeit der Eltern nicht zu haben. Aber ebenso müssen sich die Lehrer verändern, die Schüler mehr Eigenverantwortung zeigen und die Behörden bessere Evaluierungsmethoden entwickeln. Schließlich müssen Architekten bessere Schulen bauen. Die Motoren der sozialen Erneuerung laufen auf vielen Zylindern. Public-Private-Partnership mag ein beargwöhntes Modewort geworden sein, aber es trifft den Kern: Das Öffentliche und das Private müssen in ein neues Verhältnis zueinander treten. Im Kern der sozialen Innovation geht es immer um bessere Vernetzung.

Systemisierung schließlich meint die Professionalisierung des sozialen Innovationsprozesses selbst. Und die Erkenntnis: Wir brauchen auch für soziale Innovationen ein ökonomisches Modell. Statt durch Gefühle und Erregungen wird der soziale Innovationsprozess durch Erfahrung und Monitoring gesteuert. Das Wort „evidenzbasiert“ drückt hier am besten aus, was gemeint ist: Wir müssen testen, was im Sozialen funktioniert, damit wir lernen können, wie soziale Systeme am besten (re-) konfiguriert werden. Dabei ist das gut Gemeinte oft genau das Falsche.

Als man in Israel in Kindergärten eine Strafzahlung einführte, um Eltern zum pünktlichen Abholen ihrer Kinder zu zwingen, erntete man den gegenteiligen Effekt: Nun kamen die Eltern häufiger zu spät und bezahlten dafür. Als in Deutschland die Praxisgebühr in den Arztpraxen eingeführt In der Zukunft der Sozialinnovationen geht es um Vernetzungen und Rückkopplungen, die das Verhalten des Einzelnen „validieren" wurde, stieg die Anzahl der Arztbesuche. Besonders Ältere reagierten auf die Quartalsgebühr mit dem Argument: „Wenn ich zehn Euro bezahle, dann will ich auch etwas davon haben – also gehe ich mehrmals zum Arzt.“

Systemische soziale Innovation kann solche Fehlsteuerungen vermeiden, weil sie sich mit Anreiz- und Rückkopplungssystemen empirisch beschäftigt. Dabei gibt es viele neue wissenschaftliche Ansätze wie die „Nudging“-Forschung der Verhaltenspsychologen Richard Thaler und Cass Sunstein, die sich mit der Frage beschäftigt, wie man Menschen zu sozialerem und produktiverem Verhalten „schubst“, ohne sie zu bevormunden.

In der Zukunft der Sozialinnovationen geht es nicht mehr nur wie in der „Sozialinnovation 1.0“ um neue Institutionen und Gesetze. Es geht um Vernetzungen und Kooperationen zwischen Individuen, um Rückkopplungen, die das Verhalten des Einzelnen „validieren“. Soziale Innovationen handeln dabei immer von der Emanzipation aller Beteiligten – und der Frage, wie man kooperatives, produktives Verhalten belohnt, ohne es zu „kaufen“. Dabei gilt es vor allem, zwei Dinge zu vermeiden: Moralismus und Maximalismus, also den Hang, rein moralisch zu argumentieren und niemals Zwischenschritte zu akzeptieren.

Arbeit: Vom Lohn-Platzsystem zur Flexicurity

Die Hartz-Gesetze gehören zu den unverstandensten, wirksamsten (und am schlechtesten kommunizierten) Reformen aller Zeiten. Dabei sind sie ein gutes Beispiel dafür, wie soziale Innovationen konfiguriert sein müssen – aber auch wie sie scheitern können. Rekapitulieren wir noch einmal die Situation, in der „Hartz“ entstand: Ende der 90er Jahre stiegen die Arbeitslosenzahlen in Deutschland massiv an. Die De-Industrialisierung des Ostens führte zum raschen Verlust klassischer (männlicher, lebenslanger) Arbeitsplätze. Der massive Ausbau des Sozialstaates erzeugte eine „abgehängte Sozialschicht“, die sich in der Langfrist-Arbeitslosigkeit mit garantierten Transfers regelrecht einrichtete und deren rapides Wachstum früher oder später den Staatshaushalt gesprengt hätte. Gleichzeitig entstand eine Strukturkonkurrenz zwischen „Arbeitsplatzinhabern“, die ihren Status zu schützen wussten, und „Marginalisierten“ – ähnlich wie heute in Spanien, wo ein extremer Kündigungsschutz den Arbeitsmarkt hermetisch abriegelt. In dieser Situation versuchte man sich an einem klassischen Inklusions-Modell auf folgenden Grundlagen:

  • Sozialhilfeempfänger wurden nicht mehr mit Transfers ruhiggestellt, sondern als „Kunden“ eines aufwärtsmobilen Arbeitsmarktes begriffen. Dabei ging es nicht mehr – wie im alten System – um den sofortigen Einstieg in eine Vollzeitstelle, sondern um ein allmähliches, auch kulturelles Hinführen zur „Employability“, also Beschäftigungsfähigkeit. Man schuf Billig- und Teiljobs in großer Vielfalt ebenso wie neue Modelle der Selbstständigkeit (Ich-AG). Gedacht waren diese Jobs immer als Übergangslösungen, Einstiegs- und Umstiegshilfen, nie als Dauerzustand.
  • An den Transfer wurden Bedingungen zur Weiterbildung geknüpft, verbunden mit einer massiven Mobilisierung. Viele Langzeitarbeitslose haben soziale Handicaps, vom Alkoholismus bis zur totalen De-Motivation. Hier sollten therapeutische und bildungsmäßige Ansätze Hilfestellungen bewirken.

Die Grundideen waren vollkommen richtig. Aber nicht alle Teile wurden umgesetzt. Die „Förderung und Forderung“- Logik versackte allzu schnell in einer überforderten Bürokratie, die öffentliche Skandalisierung machte jeden Versuch, für den Grundansatz zu werben, nichtig. Dazu kamen Unternehmensstrategien, die auf dem Humus der Reform einen eigenen Niedriglohnsektor schufen und damit die Reformen in den Ruch der Ausbeutung zogen. Das Ende vom Lied: Heute wird in Deutschland über Arbeitslosigkeit wieder in den alten ideologischen Schützengräben der 70er Jahre diskutiert.

Die Grundidee der Hartz-Reformen ist in den skandinavischen Ländern hingegen weitgehend verwirklicht. In Dänemark gilt etwa das „Flexicurity“-Prinzip: keinerlei Kündigungsschutz, aber ein enorm effektives Betreuungssystem, das den Einzelnen an seinen Talenten entlang zu einer neuen Beschäftigung führt. So verbindet man Sicherheit mit Flexibilität, hohe Arbeitsmobilität mit individueller Planungsmöglichkeit. Voraussetzung ist, dass alle am Arbeitssystem beteiligten Parteien kooperativ zusammenwirken: Gewerkschaften, Arbeitgeber, Lokalbehörden, Individuen und Arbeitsservices praktizieren ein Win-Win-System.

Gesundheit: Vom Krankheits- zum Gesundheitssystem

Glauben wir den Experten, die in immer neuen Fernsehrunden Katastrophen-Szenarios verbreiten, geraten wir in eine gerontokratische Gesellschaft, in der die vielen Alten teure Titanium-Hüften verlangen, während die Jungen immer höhere Kassenbeiträge zahlen. Die Zukunft gehört wahlweise einer radikalen Zweiklassenmedizin, in der nur noch die Reichen eine Operation finanzieren können, oder einer anonymen Servicewüste, in der Roboter sich um Demente und Kranke kümmern und wir unsere Alten in Pflegeheime auf die Philippinen ausfliegen.

Ein Gesundheitswesen der Zukunft benötigt allerdings einen Paradigmenwechsel. Nicht alles ist mit Hightech lösbar, und nicht immer bringen neue Medikamente sinnvolle Vorteile. Allzu sehr denken und fühlen wir in den Kategorien eines Reparaturbetriebs. Womit Geld verdient wird – viel Geld –, ist immer die voll ausgebrochene Krankheit. Das führt auf Dauer zu einer „Drift“ in die immer teurere High-End-Medizin, die aber oft zu spät kommen muss und eine eigene ökonomische Logik nach der Devise „viel hilft viel“ erzeugt. Gesundheit als messbare Größe hingegen kommt in unserer ökonomischen Kalkulation eigentlich gar nicht vor. Wie bemisst man glückliche, beschwerdelose Tage?

Heute schon gibt es Praxiskonzepte, in denen evidenzbasierte und systemische Medizin die Lebensqualität von Menschen „zählbar“ verbessert. Zum Beispiel im Gesundheits-Cluster Kinzigtal, wo Ärzte eine Kooperative gebildet haben, die sich aus „gewonnener Gesundheit“ der Patienten Man kann durch „Rückvernetzung“ von Krankheit zu Gesundheits-Potenzialen eine Logik erzeugen, in der ein echtes „Gesundheitssystem“ entsteht finanziert. In Holland werden Hausärzte heute schon als „Vorsorgetrainer“ bezahlt. Sie bekommen eine Pauschale für jeden Patienten, den sie nicht pro Jahr zu Gesicht bekommen. In Israel schafft man es, mit einer hocheffizienten Klinikorganisation die beste Hightech-Medizin der Welt bezahlbar zu halten. In Norwegen bildet Online-Medizin das Rückgrat des Gesundheitswesens, mit enormen Kosteneinsparungen bei eher gewachsener Versorgungsqualität (zu viele Arztbesuche machen eigentümlicherweise krank). In Finnland hat man mit Aufklärungs- und Ernährungskampagnen chronische Krankheiten wie Diabetes, Herzinfarkt und Hirnschlag massiv zurückgedrängt. Eine bürgernahe Medizin, die neue Formen von Ambulanzen („Health to go“) mit neuen Kostenstrukturen (Patientenhotels, die Klinikkosten senken und Patienten höheren Komfort bieten) und Ferndiagnose (die Video- Internet-Praxis) verbindet, ist in Skandinavien auf dem Vormarsch. In diesen Beispielen zeigt sich: Man kann durch eine „Rückvernetzung“ von Krankheit zu Gesundheits-Potenzialen eine Logik erzeugen, in der tatsächlich so etwas entsteht wie ein „Gesundheitssystem“ – im Wortsinn.

Armut: Von Umverteilung zu Empowerment

Jede Gesellschaft produziert Unterschiede und Differenzierungen, Klassen und Schichtenunterschiede. Die moderne Gesellschaft tut dies in hohem Maße ebenfalls, obwohl das Fortschrittsversprechen einst von der Abschaffung der Armut handelte. Armut ist in der technischen Zivilisation immer relative Armut – den Armen in Europa geht es heute weitaus besser als den Armen des frühen Industriezeitalters. Eher als an Hunger stirbt ein Armer heute an Übergewicht und Bewegungslosigkeit vor dem Fernseher.

Es ist deshalb prinzipiell richtig, Bildung in das Zentrum der Armutsdebatte zu stellen. Aber Bildung ist zunächst auch nur ein Abstraktum. Wenn Bildung nicht zu Kulturtechniken der Inklusion führt, ist sie nutzlos. Armut ist eine Kultur, die sich aus bestimmten Kommunikations- und Selbst-Exklusionsformen speist. Arme Menschen in Wohlstandsgesellschaften haben als häufigstes Handicap einen Mangel an sozialer Vernetzung und Selbstkompetenz.

Das in der öffentlichen Debatte sehr beliebte bedingungslose Grundeinkommen scheint hier einen bequemen Ausweg zu liefern. Aber das Grundeinkommen verschiebt die Ungerechtigkeit nur auf eine neue Ebene. Wie sollen wir in einer Welt der enormen sozialen Unterschiede legitimieren, dass wir unseren Bürgern ein (im Weltmaßstab) riesiges „kostenloses“ Grundeinkommen zahlen, während Statt mit dem Füllhorn der Entwicklungshilfe die lokalen Strukturen zu zerstören, sind heute neue Kooperationsformen gefragt immer noch 800 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben oder sich für Hungerlöhne abrackern müssen? Eine solche Maßnahme würde die Zäune zwischen Wohlstands- und Entwicklungsländern ins Unermessliche wachsen lassen und einen alten Alptraum wahr werden lassen: die radikale Gettoisierung der Welt.

Gleichwohl ist die Anzahl der Armen auf der Welt massiv gefallen und wird auch weiter fallen. Der Grund sind ökonomische Entwicklungen, aber auch neue Entwicklungen in der Armutsbekämpfung. Bücher wie „Das Ende der Armut“ von Jeffrey Sachs, „Getting better“ von Charles Kenny oder Esther Duflos „Poor Economics“ zeigen seit Jahren die Richtung auf ein neues Verständnis der Armutsbekämpfung in Afrika und anderen unterentwickelten Regionen. Statt mit dem Füllhorn der Entwicklungshilfe die lokalen Strukturen zu zerstören, sind heute neue Kooperationsformen gefragt, in denen die lokalen Gesellschaften das Heft in die Hand nehmen. Armutsbekämpfung wird, endlich, vom Kopf auf die Füße gestellt.

Im Frühjahr 2013 brachte der „Economist“ eine Titelgeschichte, in der er das Ende der bitteren Armut in den nächsten 25 Jahren ausrief. Ganz unrealistisch ist das nicht. Mit Riesenschritten integrieren sich auch die armen Länder in eine Globalisierung, die nicht mehr nur den Interessen der großen Konzerne dient. Ständig entstehen neue, vielfältige Kooperationen, Initiativgruppen, Zivilorganisationen, die mit viel Engagement, viel Geld und neuen Konzepten gegen die Armut kämpfen. Dabei gilt zunehmend: Was wirkt, gewinnt.

  • Von bedingungslosen Transfers zu konditionaler Unterstützung: Ein gutes Beispiel ist das bolsa-familia- Sozialprogramm, mit dem Brasilien seine bittere Armut erfolgreich bekämpfte: Transferzahlungen bekommen nur diejenigen armen Familien, die ihre Kinder regelmäßig in die Schule und zur Gesundheitsvorsorge schicken.
  • Von Microcredits zu Village Loans: Mohammad Yunus’ Mikrokredite-Idee brachte Bewegung in die Almosen- Logik der Entwicklungshilfe. Aber Mikrokredit-Banken sind korrumpierbar. Der nächste Schritt sind Genossenschaftsstrukturen in den Dörfern der armen Regionen, in denen das Geld in der Hand der Dorfbewohner bleibt.
  • Von der Nahrungsmittelhilfe zur Bauernsubvention: In Malawi, Kenia, aber auch Sri Lanka und Indien ist man dazu übergegangen, die Produktivität der Kleinbauern-Landwirtschaft direkt zu fördern, mit Saatguthilfe, frei verteiltem Dünger, Infrastrukturen. Die Erfolge sind überzeugend.
  • Von Landverteilung zu Assisted Property: Landverteilung an Familien galt lange Zeit als Nonplusultra von Entwicklungspolitik – und versagte doch immer wieder an Kompetenzfragen. Die Inhaber ließen sich das Land of zu billigen Preisen abkaufen, oder es verwahrloste. Das Landesa-Projekt in Indien behebt nun dieses Problem, indem es Assistenzdienste anbietet: Rechtsschutz, Grundbucheintragung, Beratung für den landwirtschaftlichen Anbau. So brachte man viele Dörfer zum Blühen.

Demokratie: Das Dilemma der Delegation

Grundlegend gibt es zwei Möglichkeiten, über Demokratie zu denken. Einerseits als „Volksherrschaft“ – in einem idealistischen Sinn. Andererseits als Moderation von Macht. Also im Popper‘schen Sinne als „Irrtumsmaschine“: Demokratie ist deshalb richtig und effektiv, weil man die Politiker durch Wahlen ablösen kann.

Im deutschen Diskurs ist immer nur von der idealistischen Variante die Rede. Und deshalb ist Enttäuschung vorprogrammiert. Politik und Politiker gelten inzwischen prinzipiell als korrupt, eigennützig, niemals den „kleinen Leuten“ dienend – eine Einstellung, die die Demokratie vielleicht mehr gefährdet als alles andere. Das Internet wird nicht als ein neues Tool aufgefasst, dessen Wirksamkeit erst zu erlernen ist, sondern als Erlösungsversprechen: Via Netz soll die generelle Partizipation der Bürger „radikal“ durchgesetzt werden. Auch das führt zu Enttäuschungen ohne Ende.

Das Schicksal der Piratenpartei zeigt die Grenzen auf. „Liquid Democracy“ ist ein schöner Traum, der jedoch rasch zu neuen Elitenbildungen führt. Im ständigen Diskurs entsteht eine informelle Macht derer, die sich Tag für Tag im Netz tummeln. Demokratie wird als eine ewige Wohngemeinschaft gesehen, in der alles von jedem ständig diskutiert werden kann. Das Resultat ist der ewige Shitstorm. Eine Klage- und Beschimpfungsorgie, in der das Politische selbst zerstört wird, weil sich die Sensibleren aus der Rüpelei zurückziehen.

Dahinter steht ein generelles Missverständnis: Individuelle Bedürfnisse, Gemeinschaft und Macht lassen sich nie vollständig synchronisieren. Und das ist gut so. Das Wesen von Gesellschaft ist Diskrepanz. Die Idee der „Gemeinschaft“, die im deutschen Kulturraum noch durch die Gemüter wabert, ist sogar hochgradig gefährlich. Demokratie ist immer die Moderation von Macht, ihre Brechung, Relativierung, „Umleitung“. Und deshalb hat die Idee der Delegation, die im parlamentarischen System liegt, grundlegende Vorteile. Sie entkoppelt Macht von einer Person. Sie gibt auch Reichen nur eine Stimme. Menschen „bündeln“ ihre Interessen in Personen, sie „hedgen“ ihre Bedürfnisse in Parteien. Sie moderieren damit Komplexität, von der sie sonst vollkommen überfordert wären. Und sie lernen, Enttäuschung durch Alternativen auszubalancieren.

Elemente der direkten Demokratie sind dennoch sinnvoll: Vor allem auf Stadt-und Gemeindeebene funktioniert dies wunderbar, wenn es durch Moderation begleitet wird. Aber das viel zitierte Beispiel Schweiz zeigt, dass Partizipation erlernt werden muss. Die schweizerische Bürgerdemokratie funktioniert seit Jahrhunderten aufgrund von erlernter Disziplin und eines zutiefst bürgerlichen Diktums der Selbst-Zurücknahme. Auch hier gilt das Primat des Irrtums – Volksabstimmungen in der Schweiz werden oft zurückgenommen und neu entschieden.

Das Problem, mit dem uns das Internet im Politischen konfrontiert, ist seine radikale Entkopplung von Emotion und physischer Präsenz. Elektronische Netze machen Distanz möglich, aber Soziale Innovationen erfordern ein neues Denken über Zusammenhänge, Rückkopplungen und Anreizsysteme diese Distanz kann auch ent-zivilisieren, wie der Trend zum Shitstorm beweist. Wer dem Gegenüber nicht ins Gesicht sehen muss, kann seine Aggressionen ohne Rückkopplung durchsetzen. Deshalb braucht das Netz einen soliden Rückkanal, wenn es für die Meinungsbildung genutzt werden soll. Es muss Fairnessregeln und Sanktionen entwickeln. Und sich immer wieder mit der analogen Welt rückkoppeln. Twitter und Facebook helfen bei Tahrir- und Gezi-Park-Rebellionen, aber am Ende bauen die Revoltierenden das, was man in der Rebellionszeit von 1968 bis 1990 baute: Zeltstädte.

Prototypen einer neuen Kooperationskultur

All diese Beispiele zeigen: Soziale Innovationen erfordern ein neues Denken über Zusammenhänge, Rückkopplungen und Anreizsysteme. Es geht um ein „Sozio-Engineering“, das seine Erkenntnisse aus der Praxis zieht, aber auch aus Erkenntnissen der System- und Spieltheorie. Auf richtige Weise konfiguriert, entsteht aus der Interaktion von Menschen effektivere Kooperation. Es geht um neue Symbiosen von Freiheit, Gerechtigkeit und Gemeinschaft. Es geht darum, die vier „Hauptplayer“ auf dem sozialen Feld neu zu vernetzen: Zivilgesellschaft, Individuum, Wirtschaft und Staat. Dieser „Vierte Weg“ ist der Kern einer neuen sozialen Kultur, die sich davon verabschiedet, immer nur „die Anderen“ oder „die Politik“ oder „das System“ verantwortlich für Missstände zu machen. In einem solchen neuen, symbiotischen Denken wird vieles möglich, was in der alten Klassengesellschaft schwierig war. Individualität und Gerechtigkeit. Selbstorganisation und Freiheit. Wir leben in einer neuen Ära sozialer Experimente, in denen die Pioniere heute heißen: Soziale Netzwerke, Car-Sharing und Flat-Sharing, Cofounding, Coworking, Cohousing. All dies sind soziale Innovationen, Prototypen einer neuen Kooperationskultur.


Literatur:

Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee: Race against the Machine. Digital Frontier Press, 2011
William Gibson: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack – Gedanken über die Zukunft als Gegenwart. Cotta, Stuttgart 2013
Charles Kenny: Getting better. Why global Development is succeeding – and how we can improve the World even more. New York 2011
Evgeny Morozov: Technology, Solutionism and the Urge to fix Problems that don’t exist. Allan Lane, London 2013
Ariel Schwartz: How small Plots of Land helped lift an entire Indian Village out of Poverty. In: FastCo.Exist, 10.07.2013
Richard Thaler, Cass Sunstein: Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt. ECON, 2009

www.newamerica.net/node/29013

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