Warum die Zukunft wie Spielzeug aussehen sollte

Viele zukunftsweisende Produkte und Services werden so ernst gedacht und entwickelt, dass sie sich selbst im Weg stehen – dabei findet man die wahren Innovationen in Produkten und Prozessen, die Spaß machen. Ein Gastbeitrag von Marcus Naumann, Stratege im Beratungs- und Strategiestudio child.

Ein Buzzword ist noch keine Lösung, fühlt sich aber an wie eine. Deshalb sind Management-Meetings auch verseucht davon. Wenn man „Customer Experience“ in „Kundenerfahrung“ übersetzt, oder „Content“ in „Inhalt“, klingt die ganze Sache schon deutlich weniger sexy. Dabei sagte schon Albert Einstein: „Wenn du es keinem Sechsjährigen erklären kannst, hast du es selbst nicht gut genug verstanden.“

Einfachheit ist der Quellcode des Problemlösens. Sie demaskiert und entsteht, wenn man etwas Kompliziertes in seine Bestandteile zerlegt und so wieder aufbaut, dass die Bedeutung klar wird und Bezeichnungen weggelassen werden können. Das Verkomplizieren von Sachverhalten wird in Zukunft mehr und mehr zum Wettbewerbsnachteil für Unternehmen, weil sich der Blick verliert, worauf es bei neuen Produkten, Services, sogar Prozessen wirklich ankommt: dass sie Spaß machen.

Unterschätztes Spielzeug

Clay Christensens „Disruptive Theory“ meint, dass Technologie dazu tendiere, in einem schnelleren Maße besser zu werden als die Nutzerbedürfnisse steigen, für die sie ursprünglich einmal entwickelt wurde. Schlussfolgerung von Chris Dixon, General Partner bei Andreessen Horowitz: Produkte „Einfachheit ist der Quellcode des Problemlösens.“ sind Prozesse – und das „next Big Thing“ sieht oft aus wie ein Spielzeug. Es wird von der Konkurrenz oft gnadenlos unterschätzt, weil es in seiner ersten Version die Nutzerbedürfnisse nur unbefriedigend bedient. Dabei sind Produkte, die anfangs belächelt werden, weil sie merkwürdig aussehen, wirkliche Produkte: Es gibt sie, sie werden benutzt und weiterentwickelt. Ergo: Ein Produkt, über das man müde lächelt, ist besser als ein Konzeptpapier, in dem seriös herumgeschwafelt wird.

Spielzeuge machen in erster Linie Spaß. Und Nutzern eine gute Zeit zu spendieren, ist kein schlechter Anfang. Ein Beispiel: Eines der erfolgreichsten digitalen Produkte der New York Times ist ein Kreuzworträtsel. Damit erreicht die NYT jeden Monat zwei Millionen Menschen, rund 400.000 Subscriber zählt der Service, der umgerechnet rund 50 Cent wöchentlich kostet. Der beste Journalismus der Welt baut also einen Eingang zu seinen Inhalten über eine Kreuzworträtsel-App.

E-Scooter statt Carsharing

Auch Uber baut mit E-Bikes und E-Scootern das eigene Geschäft mit einem Fortbewegungsmittel aus, das noch vor wenigen Monaten bei Toys’R’Us zu finden war. Denn E-Scooter machen Spaß – und man sieht nicht so lächerlich aus wie auf einem Segway. Ein E-Scooter löst das exakt gleiche Nutzerproblem auf viel bessere Weise als beispielsweise ein Sharing-Auto. Bietet er doch eine umweltfreundliche Alternative, um im urbanen Raum von A nach B zu kommen – staufrei, unterhaltsam und aktiv. Die aktuelle Generation der E-Scooter fährt ca. 21 km/h. Zum Vergleich: In Städten fährt ein Auto oft nicht viel schneller als 30 km/h, manchmal sogar gar nicht, weil man im Stau steht. Eigentlich hätte die neue Uber-Strategie die Strategie von Car2Go, DriveNow oder VW sein müssen – war sie aber nicht, weil ein E-Scooter wie ein Spielzeug aussieht und daher nicht ernst genommen wird.

Live-Konzert im Videospiel

Bei vielen Computerspielen geht es um Missionen, besondere Spielkniffe, Erfolge oder Überraschungen. Aber wenn Menschen von Fortnite reden, erzählen sie oft von Situationen, die sie erlebt haben. Das Fortnite-Narrativ klingt nach einem Tag im Vergnügungspark. Ende Januar spielte der bei Jugendlichen beliebte DJ Marshmello einen Gig in Fortnite: Ein DJ gab ein Live-Konzert in einem Videospiel. Es gab viele Berichte darüber, dass so die Zukunft von Events aussieht. Schwer zu glauben: Für viele Teenies war das Event mit Marshmello das erste Konzerterlebnis ihres Lebens. Ein Computerspiel, das man nicht wirklich spielt, sondern das vielmehr ein Ort ist, zu dem man geht, ist schon mittelmäßig verrückt.

Wenn der Spielzeuggedanke zur Lösung wird

In Spielmustern zu denken, hilft Unternehmen ganz grundsätzlich dabei, die Angst vor dem Scheitern abzulegen und nicht im Perfektionismus zu verzetteln. Eines der schlimmsten Probleme im Innovationskontext ist „the Messy Middle“: Am Anfang haben alle Spaß daran, mögliche Zukünfte auszudenken. Da gibt es Innovations-Workshops, Impulsvorträge, Breakout-Sessions. Aber irgendwann muss aus dem luftleeren Ideenraum etwas Anfassbares werden. Ab dann verheddern sich Unternehmen allzu oft im Seriösen. Sobald es in die echte Welt geht und neue Konzepte das Lab verlassen müssen, wird aus Kundenerfahrung wieder Customer Experience und aus Spaß ganz schnell bitterböser Business-Ernst.

Die Arbeit in Prototypen, wie sie etwa in Design Sprints angewendet wird, hilft, dieses „Messy Middle“ genauso energiegeladen zu durchschreiten: weil man den Innovationsprozess nicht unnötig in die Länge zieht – vor allem aber, weil man den Geist des Ausprobierens so zum Modus Operandi macht.

Auch im Minimum-Viable-Product-Ansatz (kurz MVP) steckt der Spielzeuggedanke – und mit ihm die Erkenntnis, dass man Probleme nur löst, indem man anfängt, sie wirklich zu lösen. So ist beispielsweise ein MVP kein Autorad, aus dem Schritt für Schritt ein Auto wird, denn nur mit einem Autorad kann man sich nicht fortbewegen. Ein MVP ist erst ein Skateboard, aus dem ein Roller wird, dann ein Fahrrad, irgendwann ein Auto. Daher lautet meine Empfehlung an Unternehmen: Denkt in Skateboards! Denn kontrolliertes Spielen ist das Betriebssystem erfolgreicher Firmen – heute und in Zukunft.

Über den Autor

Marcus Naumann verantwortet die Strategie und inhaltliche Kundenführung der Strategieberatung child in Frankfurt am Main mit Schwerpunkt Organisationsberatung, Retail-Innovation und E-Commerce.

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