3 Gründe für die Jahrhundertchance des Mittelstandes

Ausgerechnet der europäische Mittelstand könnte eine Antwort auf die Diagnose des multiplen Konzernversagens liefern. Dafür gibt es drei überzeugende Gründe. – Ein Auszug aus Franz Kühmayers Leadership Report 2019.

1. Klassische Mittelstandseigenschaften werden wieder wichtig

Während die Großen verzweifelt an Start-ups andocken, um ihre Innovationskraft aufzufrischen, und sich mit wagemutigen Reorganisationsprojekten herumschlagen, um agil und resilient zu sein, zeichnen kurze Wege, klare Entscheidungsstrukturen und Tüftlergeist im besten Sinn des Wortes den Mittelstand seit jeher aus. Und mittelständische Unternehmen können erstaunlich attraktive Arbeitgeber sein: Sinnstiftende Tätigkeiten, verantwortungsvoller Umgang, Nachhaltigkeit – all das sind Themen, die Konzerne erst mühsam lernen müssen, die aber bei guten Mittelständlern gang und gäbe sind.

2. Die Digitalisierung nivelliert das Wettbewerbsniveau

Während viele Mittelständler denken, chancenlos gegen die Übermacht der digitalen Elite der Amazons und Ubers zu sein, ist das Gegenteil der Fall. Die Technologierevolution bringt vor allem auch eine massive Demokratisierung der Betriebsmittel mit sich. Was bislang nur die Großen konnten, ist dank Cloud Computing und Co. oft nur eine Kreditkartenzahlung entfernt – und das, ohne eigene Infrastruktur betreiben zu müssen.

3. Die Nähe zum Kunden wird wieder wichtig

Die hyper-individualisierte Konsumgesellschaft begünstigt mittelständische Unternehmen, indem sie eine Umkehr der kritischen Wettbewerbsfaktoren erzeugt. Das klassische industrielle Zeitalter war von Massenfertigung und Economy of Scale gekennzeichnet. Doch durch moderne Produktionsmittel steht inzwischen (wieder) wirtschaftlich vertretbar die Losgröße 1 – das auf den einzelnen Abnehmer zugeschnittene Produkt – in Aussicht. Das führt vor allem zu einer Aufwertung von Betrieben, die ganz nah an den Bedürfnissen ihrer Kunden sind: Handwerk und Mittelstand.

Selbstbewusst in die Zukunft

Was ein Mittelstandsunternehmen ist, wird durch Kenngrößen wie Umsatz oder Mitarbeiterzahl definiert. Mehr noch als durch quantitative Kriterien ist der Mittelstand jedoch qualitativ charakterisiert, mit all seinen Vor- und Nachteilen: Der Unternehmer prägt als Persönlichkeit den Betrieb, das führt zu flachen Strukturen und direkten Entscheidungswegen, aber auch dazu, dass Mitbestimmung und organisationales Lernen schwach ausgeprägt sind; der hemdsärmelige Zugang zur Unternehmenssteuerung, der sich nicht um langwierige Prozesse kümmert, führt andererseits auch zu niedriger Management-Kompetenz.

Vor allem aber sind es zwei Kriterien, die geradezu typisch für Mittelbetriebe stehen: Innovationskraft und Unternehmergeist. Genau diese beiden Eigenschaften sind mehr denn je erfolgsversprechend. Kleine und mittlere Unternehmen stehen nicht nur am Arbeitsmarkt, sondern auch in wirtschaftlichen Belangen in einer ausgeprägten Wettbewerbssituation zu Großunternehmen und innovativen Gründungen.

Dabei gilt mehr als je zuvor: Einen guten Kasten erkennt man daran, wie er auf der Rückseite aussieht. Das ist kein Ruf nach maschinell erzeugter Perfektion, sondern nach Leidenschaft; nicht nach glatter Fehlerlosigkeit, sondern nach sinnlicher Qualität, die sich aus menschlicher Arbeit ergibt. Das gerät vor allem in einem Zeitalter, in dem Roboter in der Fertigung effizienter sind, als es je ein Mensch „Alte Zöpfe müssen abgeschnitten werden. Die besondere Herausforderung dabei lautet, die eigene Identität nicht auf dem Altar der Modernität zu opfern.“ sein könnte, zu einem wichtigen Differenzierungsmerkmal. Und zwar sowohl auf der Produktseite als auch am Arbeitsmarkt.

Der Mittelstand steht an einem Scheideweg. Um aus dem Schneewittchenschlaf zu erwachen und zukunftsfit zu werden, müssen alte Zöpfe abgeschnitten werden, vertraute Muster erkannt, schonungslos auf ihre Tauglichkeit überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Das gilt hinsichtlich der Strukturen, der Arbeitsweisen, der Technologien und der Innovationskraft.

Die besondere Herausforderung dabei lautet, die eigene Identität nicht auf dem Altar der Modernität zu opfern. So wenig wie der Mittelstand abgespeckte Lösungen aus Großunternehmen braucht, so wenig darf er auf Patentrezepte setzen. Wer aber offen für eine Rückbesinnung und Neubelebung der unternehmerischen Kultur in ihrer Ganzheitlichkeit ist und wer es talentierten Mitarbeitern ermöglicht, nicht nur im Unternehmen mitzuarbeiten, sondern am Unternehmen, dem steht tatsächlich eine neue Blüte bevor.

Über den Autor

Franz Kühmayer beschäftigt sich als Trendforscher, Autor und Speaker intensiv mit den Themen Leadership und New Work. Der studierte Physiker und Informatiker verbindet dabei wissenschaftliche Erkenntnisse mit seinen Erfahrungen als Top-Manager, u. a. aus seiner Zeit als Director of Business Management Europe, Middle East & Africa bei Microsoft. Als Vordenker der neuen Arbeitswelt lehrt der Experte des Zukunftsinstiuts an der Fachhochschule Wiener Neustadt sowie der Ferdinand Porsche FernFH. Kürzlich veröffentlichte Kühmayer die vierte Auflage seines Leadership Reports.

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Dossier: Leadership

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Die Weltwirtschaft ist nicht mehr von zwei oder drei großen Playern dominiert, sondern längst ein multipolares Spielfeld geworden. Wie können sich Führungskräfte in diesem Kontext behaupten und welche Fähigkeiten brauchen sie?

Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Franz Kühmayer

Franz Kühmayer gehört zu Europas einflussreichsten New-Work-Vordenkern. Als Keynote Speaker inspiriert er zur Reflexion über Leadership, Arbeit und Kultur.