Sitzen statt Laufen: Meditation wird zum Leadership-Tool des 21. Jahrhunderts. Wie Führungskräfte Atem statt Geld zählen - und Achtsamkeit gesellschaftsfähig wird.
Meditation: Das neue Joggen
Ein ehemaliger Panzerbataillon-Kommandant und führender Kopf des Konzerns Esselte richtet im Verwaltungsgebäude ein Zendo ein. Ein tätowierter IT-Manager legt Cheeseburger und Whiskey zur Seite, um bei Google Meditationskurse zu besuchen. Gründer sozialer Netzwerke sprechen plötzlich von buddhistischen Verbindungsideen statt der digitalen Konnektivität. Sie stoßen auf Skepsis bei den Mitarbeitern und Kollegen, bewegen sich nahe am Rausschmiss, überzeugen aber mit Erfolg und Zahlen.
Der mittlerweile pensionierte Esselte-Manager Thomas Heine hatte bis zu seinem Ausscheiden die besten Ergebnisse – ohne Anstrengung und übermäßige Energie, wie er im Interview mit der Stuttgarter Zeitung erwähnt. Google-Ingenieur Bill Duane macht die durch die Meditation gelernte Fokussierung für seinen Karrieresprung verantwortlich: Hatte er während der Burger- und-Bourbon-Zeit ein Team von 30 Mitarbeitern, leitete er danach 150. Heute profitieren alle Googler von ihm, seit er selbst Meditationskurse anbietet. Ohne Herz für Hippies, Esoteriker und andere Dogmatiker.
Tägliche Dosis Geistestraining
Die neuen Meditierenden zeigen, dass Achtsamkeitstraining keine transzendente, nach AUM klingende religiöse Angelegenheit für eine in Lotosposition sitzende elitäre Gruppe ist, welche das „Nichtdenken“ beherrscht. Ganz im Gegenteil, es geht um:
- mehr Kreativität
- emotionale Intelligenz
- Konzentration
- und um eine allgemeine Bereicherung auf persönlicher wie unternehmerischer Ebene
Meditation ist laut Andy Puddicombe Geistestraining. Der ehemalige buddhistische Mönch, von der New York Times als Jamie Oliver der Meditation gefeiert, beschreibt es in seinem Buch „Mach mal Platz im Kopf“ so: „Nichts Abgedrehtes, nichts Durchgeknalltes, sondern einfach nur leicht fassbare Methoden, die es Menschen ermöglichen sollen, mehr Headspace zu erfahren. (...) Ich bin mir sicher, es wird eine Zeit kommen, in der es genauso selbstverständlich sein wird, sich jeden Tag zehn Minuten hinzusetzen, um Headspace zu erfahren, wie spazieren zu gehen. Vor zehn oder fünfzehn Jahren konnte man das Wort Yoga nicht aussprechen, ohne Menschen zum Schmunzeln zu bringen, aber wenn man jetzt in ein Sportstudio geht, um Yoga zu machen, ist das so normal, wie an einem Aerobic-Kurs teilzunehmen.“
Beide Vergleiche passen, die Suche nach Wahrheit, Sinn, Bestimmung beginnt wieder stärker das neue Denken unserer Gesellschaft zu prägen sowohl die Jamie-Oliver-Parallele wie auch das Yoga-Beispiel. Andy Puddicombe hat vor drei Jahren die Organisation Headspace ins Leben gerufen und transportiert damit derzeit von London aus seine Idee in die Welt, dass jeder täglich zehn Minuten meditieren sollte. Eine Dependance hat Headspace bereits in L.A. eröffnet. Und nicht erst seit seinem TED-Talk im November 2012, den bereits weit mehr als eine Million sahen, verkaufen sich seine Bücher wie geschnitten Brot. Der Brite lässt Meditation für jedermann möglich werden – so wie Jamie Oliver das Kochen simplifizierte und damit allen zugänglich machte.
Meditation befreit sich vom peinlichen Image
Reduktion und Säkularisierung der Meditation sind es, welche ihren derzeitigen Erfolg ausmachen, vergleichbar mit dem Erfolg des Yoga. Es ist nicht länger verfänglich, einen Sonnengruß zu kennen. Selbst Konzerne wie Daimler-Benz bieten Business-Yoga an. Dass irgendwann auch in solch traditionellen Branchen wie der Automobilindustrie Meditationskurse angeboten werden, liegt nahe. Speziell wenn man einen Blick Richtung USA wirft. Die dortigen CEOs treffen sich seit Neuestem nicht mehr auf TED-, sondern auf Wisdom-2.0-Konferenzen, um dort über Achtsamkeit, Weisheit und Mitgefühl zu lernen. Luke Nosek, Mitgründer von PayPal, bringt es auf den Punkt: „Überall, wo man sich auf der Wisdom-2.0-Konferenz umschaut, ist es ein: ,Oh mein Gott, Du bist auch hier?‘“
Die Presse reagierte zu Beginn noch ein wenig ironisch, etwa wenn die Financial Times titelte: „Nirvana, the Silicon Valley Way“. Doch der Erfolg lässt die seriösen Medien einen neuen Ton anschlagen. 2009 begann die Konferenz mit 325 Teilnehmern, 2013 waren es bereits über 1.800. Zu den Speakern gehören Unternehmensgründer von Facebook, Twitter oder eBay, ebenso wie Lehrmeister unterschiedlichster Schulen, Neurowissenschaftler oder Spieleentwickler. Aber nicht nur die ja prinzipiell eher weltoffenen Kalifornier wollen Wisdom 2.0. Ein erster Event unter dem Aspekt „Wisdom in Business“ ist für September 2013 in New York angesetzt.
Ob Westen oder Osten – die Suche nach Wahrheit, Sinn, Bestimmung beginnt wieder stärker das neue Denken unserer Gesellschaft zu prägen. Schlagworte wie Achtsamkeit, Verletzlichkeit, Bewusstheit, Gelassenheit, Dankbarkeit, Mitgefühl verlassen die Eso-Ecke und stoßen auf breite soziale Akzeptanz. Megatrends wie Konnektivität, Individualisierung, New Work sind maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt. Die Abhängigkeit von technischen Geräten gilt es hinsichtlich eines sinnvollen, produktiven Einsatzes auszuhandeln. Es ist die Suche des Einzelnen nach Wurzeln, Miteinander und Authentizität, aber auch der starke Kontrast zur Vielfalt an Lebensstilen, zwischen denen gewählt werden kann. Und nicht zuletzt eine neue Arbeitskultur, welche die herkömmliche Trennung zwischen Beruf und Freizeit aus den Angeln hebt – all das lässt den Wunsch nach Ruhe und Fokussierung wachsen.
Werkzeug für Führungskräfte im 21. Jahrhundert
Während in den letzten Jahren auf die Sehnsucht nach Kontrast zum Work-Life-Balance-Stress vor allem mit einem Running-Boom reagiert wurde, zeichnet sich jetzt ab, dass Stillsein, Stillstehen, Stillsitzen zum neuen Laufen wird. Im Wunsch, das Stresslevel nicht noch weiter zu erhöhen, tauschen Manager den Marathon gegen das Meditationskissen. Auf diesem sitzend oder kniend geht es nicht um Bestzeiten und Performance, sondern um Anfängergeist an jedem neuen Tag. Hier müssen keine Wettkämpfe gewonnen werden, es geht nicht ums Messen mit den Arbeitskollegen oder um einen Firmenlauf. Es geht um das individuelle Finden von Klarheit, Orientierung und dem persönlichen Weg. Denn ein starker Wille alleine reicht heute nicht mehr aus, um Unternehmen und Mitarbeiter zu führen. Zwei der renommiertesten Wirtschaftshochschulen, die Harvard Business School sowie INSEAD, folgern aufgrund ihrer Forschungsergebnisse, dass zwei der effektivsten Mittel zur Unternehmensführung im 21. Jahrhundert Meditation und Intuition sind. Corporate Meditation wird zum neuen Schlagwort.
Das hat auch Hinnerk Polenski erkannt. Der in Kiel beheimatete Zen-Meister praktiziert seit über drei Jahrzenten, ist ordinierter Mönch und hat gemeinsam mit seinem Lehrer Reiko Mukai die Daishin-Zen-Linie gegründet. Die Zen-Schule richtet sich insbesondere an Europäer, und einer der drei Schwerpunkte ist Zen für Führungskräfte. Polenski selbst war lange Jahre Unternehmensberater, bevor er sich ganz dem Coaching von Führungskräften zuwandte. Heute geben er und sein Team wöchentlich rund ein Seminar. Zu den Referenzen von Zen-Leadership zählen Banken, Beratungsgesellschaften, Versicherungen, zu den Kunden viele Multiplikatoren wie Künstler, Journalisten oder Ärzte.
Meditation erreicht die Schulmedizin
Ärzte sind ein wichtiges Stichwort, denn nicht zuletzt hat Meditation einen Gesundheitseffekt. In den letzten 40 Jahren gab es Hunderte von Studien und Forschungen an renommierten universitären Einrichtungen wie dem MIT oder der Harvard Medical School, die ganz klar den gesundheitlichen Nutzen des Meditierens belegten. Hirn- und Neurowissenschaftler haben den Einfluss der Seele auf den Körper nachgewiesen, das Meditieren zu einer schulmedizinischen Angelegenheit gemacht und damit dem Metier soziale Akzeptanz gegeben.
Im Mai 2013 titelte dann auch Der Spiegel: „Der heilende Geist. Medizin: Gesund durch Meditation und Entspannung“. Die achtseitige Titelgeschichte entmystifiziert die Meditation vom esoterischen, religiösen und sogar philosophischen Aspekt und gibt ihr damit eine Legitimation in unserer von Verstand und Aufklärung geprägten westlichen Kultur.
Was in anderen, weniger wissenschaftsgläubigen Kulturen längst angewandt wird, bekommt nun durch der Deutschen liebstes Wochenmagazin den Unbedenklichkeitsschein. Die Verheißungen der Meditation für unsere Gesundheitsgesellschaft klingen schon fast zu schön, um wahr zu sein: Die neuen Volkskrankheiten wie Depressionen oder Rückenschmerzen, andere gängige Stressphänomene wie Bluthochdruck, alles lässt sich mit Achtsamkeitstraining behandeln. Schlechte Nachrichten für die Pharmaindustrie, für den zweiten Gesundheitsmarkt ergibt sich jedoch eine riesige Chance: Rund 4 Millionen Menschen gelten in Deutschland als depressionserkrankt – Tendenz steigend. Der Konsum von Antidepressiva hat sich in Deutschland laut OECD zwischen 2000 und 2010 mehr als verdoppelt. Kamen 2000 20,7 Tagesdosen auf 1.000 Personen, waren es zehn Jahre später bereits 47. Noch drastischere Ergebnisse gibt es bei verschriebenen Antihypertonika: Belief sich im Jahr 2000 der Verbrauch von Arzneimitteln zur Behandlung von Bluthochdruck deutschlandweit auf rund 6,4 Milliarden definierten Tagesdosen, waren es zehn Jahre später 13,7 Milliarden. Und auch Schmerzpatienten nehmen stetig zu. Neben Kopfschmerzen stehen Rückenschmerzen an zweiter Stelle bei den Symptomen, gegen die Schmerzmittel genommen werden. Während Frauen vor allem wegen depressiver Episoden eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt bekommen, sind es bei Männern Rückenschmerzen.
Die neue Wunderwaffe
Meditation als Antwort auf Unternehmensführungskonzepte in Zeiten, in denen Wirtschaftswachstum neu gedacht werden muss, und Meditation zur Behandlung von Krankheiten sind nur zwei Aspekte, welche zeigen, wie Geistestraining von einer elitären „Erleuchtungs“-Ebene plötzlich für jeden Vorteile und Nutzen bringen kann.
Noch plastischer ist das Beispiel der „Dhamma Brothers“. Was in Indien seit Mitte der 70er-Jahre praktiziert wird, wurde in einem Hochsicherheitsgefängnis in Alabama Anfang des 21. Jahrhunderts ausprobiert: Vipassana-Meditation. In dem überfüllten Gefängnis wurden Mörder und andere Schwerverbrecher verwahrt, selten mit der Chance, jemals wieder in Freiheit leben zu können. Gewalt war an der Tagesordnung. 100 Tage Schweigen und Meditation in der Vipassana-Tradition brachten Änderung. Achtsamkeit und emotionale Intelligenz wurden erhöht, die physische wie psychische Gesundheit verbessert, Aggressionen und Gewaltbereitschaft gingen signifikant zurück, und nicht zuletzt konnten Sonderverwahrung und Einzelhaft aufgrund von Regelwidrigkeiten seitens der Insassen um 20 Prozent reduziert werden.
Nicht nur die Teilnehmer des Retreats profitierten, es hatte Einfluss auf die anderen Inhaftierten wie auch auf das Wachpersonal. Das Projekt wurde in dem Bundesstaat im christlich-fundamentalistischen Bible Belt vier Jahre verboten, bis es 2006 wieder in der Donaldson Correction Facility installiert wurde und durch den Dokumentarfilm „The Dhamma Brothers“ weltweit Beachtung fand. Dass Zen und Gefängnis nicht nur ein Hirngespinst aus Hollywood ist, belegen Studien, zahlreiche Bücher und nicht zuletzt die wachsende Anzahl an Anbietern.
Mit Meditation auf Erfolgskurs
Meditation verändert Märkte. Ein anderes Denken wird in die Wirtschaftsordnung implementiert, das zu anderem Handeln führen kann: achtsamer, besonnener, empathischer, ausgeglichener, mehr auf Miteinander denn Gegeneinander gerichtet. Zusätzlich entsteht ein neuer Markt, der partiell andere überflüssig werden lässt. Der neue Meditation verändert Märkte. Ein anderes Denken wird in die Wirtschaftsordnung implementiert Markt basiert primär auf Dienstleistungen und dem Verkauf immaterieller Werte, weniger auf Konsumartikeln und materiellen Gütern. Potenzial ist da, bereits 2008 hatten laut Institut für Freizeitwirtschaft 29 Prozent der Befragten Erfahrung mit Meditation, jeder vierte gab an, es gerne mal ausprobieren zu wollen. Die Zahlen würden heute wesentlich höher ausfallen, insbesondere wenn Yoga, Tai-Chi, Mindfulness-Based Stress Reduction und andere stressreduzierende Praktiken mit berücksichtigt werden. Unsere 24/7-Gesellschaft, in der Multitasking selbst in der Freizeit mit First und Second Screen präsent ist, hungert nach Angeboten, die Ruhe, Entschleunigung, Authentizität bieten. Und da der Erfolg von und der Zugang zur Meditation keine Unterschiede zwischen Bildungsgrad, Herkunft, Geschlecht oder Alter macht, kann die Technik über das Dasein als Nischenprodukt definitiv hinauswachsen.