Im privaten Alltag erleben wir Überraschungen vielfach als bereichernd, ja sogar wünschenswert. Würde unser Leben stets so verlaufen, wie wir es erwartet haben, wäre uns sehr bald sehr langweilig. Wir haben als Menschen nicht nur die Fähigkeit, sondern sogar eine Sehnsucht danach, Überraschungen zu erleben und zu meistern. Im beruflichen Kontext ist allerdings das Gegenteil der Fall. „Keine Überraschungen bitte!“ lautet das Credo vieler Führungskräfte. Die Wurzel dieses Übels liegt im Glauben an den Sieg des Fehlerlosen über das Wahre, in der Hoffnung auf Perfektion und Leistung als erfolgsentscheidende Faktoren. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Unternehmenskultur – Stichwort Fehlerkultur – sondern auch strukturelle Konsequenzen.
Heerscharen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werden in Unternehmen darauf gedrillt, Abweichungen von einer Idealvorstellung zu finden, zu eliminieren
„Der Fokus auf Leistung ist die Abkürzung in die Sackgasse.“
und gegebenenfalls auch zu bestrafen: Konzernrevision, Prozessbeauftragte, Verfahrenshandbuchautorinnen und -autoren, ISO-9000-Champions, Six-Sigma-Blackbelts – die Namen sind klingend, der Auftrag ist stets gleich: no surprises. Unternehmen versuchen, durch Perfektionierung ihres bisherigen Vorgehens ihre Zukunftsfähigkeit abzusichern. Und je mehr sie das versuchen, umso härter ist der Aufprall in der Realität. Der Fokus auf Leistung ist die Abkürzung in die Sackgasse. Je enger der Tunnelblick, umso gefährlicher verengt sich nicht nur die fachliche, sondern auch die menschliche Perspektive. Der schiere Leistungsgedanke ist ein Risikofaktor für die Qualität unternehmerischer Entscheidungen.
Führung muss die richtigen Fragen stellen
Resilienz, Dynamik-Resistenz und Robustheit zu verbessern, gelingt nicht durch Leistungssteigerung. So nachvollziehbar es ist, sich in unsicheren Märkten und schwankenden Konjunkturen auf Planbarkeit, Effizienz und Prozesshaftes zu konzentrieren, so kurzsichtig ist es auch. Sich jahrelang den grundlegenden Veränderungen der Welt zu verschließen, kann nicht mit operativer Exzellenz kompensiert werden. Die eiskalte Corona-Dusche hat es deutlich gemacht: Die Frage, wie man sich im Einzelnen auf eine Krise besser vorbereiten hätte können, verliert im Angesicht der Tragweite massiver Disruptionen an Bedeutung. Keine einzelne Prozessoptimierung hätte irgendein Unternehmen substanziell besser vor den Auswirkungen von Corona geschützt; sehr wohl hätten das allerdings grundlegende Überlegungen und daraus abgeleitete Handlungen getan:
- Was geschieht mit unserer Arbeitsweise, wenn sich Büroarbeit durch Digitalisierung tatsächlich massiv verändert?
- Wie verändern sich unsere Wertschöpfungsmodelle, wenn ganze Marktsegmente schlagartig einbrechen?
- Wie reagieren wir, wenn sich die Absatzchancen gesamter Produktkategorien durch Skaleneffekte verändern?
Die Aufgabe von Führungskräften ist es nicht, die Aufrechterhaltung des Regelbetriebs zu überwachen. Ganz im Gegenteil: Es ist eine der vornehmsten Leadership-Pflichten, für Irritation, für Abweichungen, für ein stetes Hinterfragen des eingeschlagenen Weges zu sorgen. Dazu gehört auch, schwache Signale des Wandels wahrzunehmen, bevor sie zu starkem Veränderungsdruck führen, und selbst der Auslöser für Überraschungen zu sein, statt sie krampfhaft zu verhindern.
Corona darf nicht als eine einmalig auftretende Anomalie des Businesslebens betrachtet werden. Wir müssen daraus vor allem die Fähigkeit zur Bewältigung der Dynamik der Welt lernen. Diese Fähigkeit unterscheidet sich fundamental vom tradierten Leistungsgedanken.