Jugendliche sind Vorreiter gesellschaftlicher Konsumbedürfnisse. Unternehmen können diese Chance nutzen – wenn sie die neuen Kommunikationsregeln kennen. Ein Auszug aus unserer Studie Youth Economy.
Von Christian Schuldt (08/2015)
Jugendliche sind Vorreiter gesellschaftlicher Konsumbedürfnisse. Unternehmen können diese Chance nutzen – wenn sie die neuen Kommunikationsregeln kennen. Ein Auszug aus unserer Studie Youth Economy.
Von Christian Schuldt (08/2015)
Jugendliche Konsumenten sind heute vor allem eines: rundum vernetzt. Sie haben eine geradezu intime Beziehung zu digitalen Medien und Produkten, und sie sind "always on". Das macht Jugendliche wertvoller denn je als experimentierfreudige Early Adopter: Durch die umfassende Vernetzung können sie schnell Resonanzeffekte erzeugen – nicht zuletzt bei den "jungen Alten".
Zugleich sind heutige Jugendliche aber eine unberechenbare Größe. Die vielfältige, komplex vernetzte Liquid Youth kann mit klassischen Marketingmaßnahmen nicht mehr erreicht werden. Digitale Medien und soziale Netzwerke haben die Erwartungshaltungen jugendlicher Konsumenten von Grund auf verändert. Vollkommen zu Recht gilt die Gruppe der unter 30-Jährigen für das herkömmliche massenmediale Marketing als Lost Generation.
"Die" Jugend ist heute nicht mehr adressierbar – weil es sie nicht mehr gibt. Jugendliche bilden keine homogenen Generationen, Gruppen oder Szenen mehr, sondern nur noch temporäre, flüchtige Gefüge. Eine fluide, digital verstreute Kohorte – und ein Worst-Case-Szenario aus der Sicht klassischer Marketingmechanismen. Wie also können Unternehmen Kontakt aufnehmen zur Liquid Youth?
Das Marketing braucht neue Ansätze, die ebenso komplex sind wie die vernetzte Jugend selbst. Jugendliche erwarten heute von Unternehmen und Marken einen direkten Dialog, der ihre Selbstwirksamkeit im Kontext sozialer Bezugsgruppen fördert. Es geht darum, Unterstützung zu leisten beim Finden und Entfalten individueller Talente – im Zusammenspiel mit den Resonanzen der anderen. Das Unternehmen wird zum Coach, der dieses komplexe Zusammenspiel von Ich und Wir engagiert und authentisch bespielt. Dabei sind drei Punkte entscheidend:
In digitalisierten und individualisierten Zeiten sind herkömmliche Zielgruppen obsolet geworden. Gruppenzugehörigkeiten sind heute jederzeit frei austauschbar und kombinierbar. Auch hinter konservativen Karrierewegen können sich liberale oder öko-fundamentalistische Einstellungen verbergen. Traditionelle Konsumenten-Kategorisierungen nach Sinus- und Sigma-Milieus können die Komplexität und Widersprüchlichkeit heutiger Lebensformen nicht mehr widerspiegeln.
Das gilt in besonderen Maße für die temporären, flüchtigen Lebensentwürfe der Liquid Youth. Marken- und Produktidentifikationen verflüssigen sich, es entsteht ein Nebeneinander von langfristigen und temporären Identifikationen. Die Industrie versucht sich darauf einzustellen: Große Modeketten wie H&M beobachten quasi in Echtzeit, wie sich jugendliche Stile und Szenen ausdifferenzieren – und passen ihr Produktdesign entsprechend an. Heute geht es weniger darum, die Jugend mit neuen Ideen zu versorgen, als jugendlichen Konsumenten möglichst schnell ihre eigenen Ideen zum Verkauf anzubieten.
Die vernetzte Ökonomie des 21. Jahrhunderts verabschiedet die massenmedialen Marketing-Prinzipien der Prä-Internet-Ära. Es ist heute nicht mehr möglich, hinreichend viele Konsumenten um ein großes Lagerfeuer zu versammeln. Aussichtsreicher ist es, viele kleine Lagerfeuer zu entzünden, an denen sich dann versammelt, wer mag. Der Markt ist nicht mehr die Masse, sondern die einzelne Person, das Individuum – das sich über eine wachsende Bandbreite an Marken und Produkten ausdrücken und inszenieren kann. Damit wird das Marketing auf eine neue Stufe gehoben: An die Stelle der individuellen Massenkommunikation tritt die massenhafte Individualkommunikation.
Ein Hauptcharakteristikum der Netzwerkgesellschaft ist der "ermächtigte Konsument". Das Sozialmedium Internet hat die Machtverhältnisse zwischen Unternehmen und Konsumenten umgekehrt: Kunden erwarten, dass Unternehmen auf sie zukommen. Für die Unternehmenskommunikation bedeutet das eine radikale Kursänderung: von Senden auf Kommunizieren, von passivem Abwarten zu aktiver Kontaktaufnahme. Die Liquid Youth treibt diese Ermächtigung der Kunden und Konsumenten stark voran.
So bilden sich neue kollektivistische Konsumwelten – jenseits der traditionellen ökonomischen Strukturen. Prominentestes Beispiel ist das Phänomen der "Share Economy", kurz Shareconomy: Auf Basis der digitalen Vernetzung und getragen vom Prinzip "Nutzen statt Besitzen" entstehen neue Peer-to-Peer-Sektoren, die die Macht der Crowd nutzen. Und die sich auch ganz bewusst abseits des herkömmlichen Wirtschaftssystems platzieren, etwa in Form von Online-Tauschringen, Open-Source-Plattformen oder autonomen Produktionsstätten. Die Shareconomy zeigt, dass und wie auf Basis digitaler Infrastrukturen bewusster, "sinnhafter" und freier konsumiert werden kann.
Dieses Bewusstsein ist unter jüngeren Konsumenten stark verbreitet. Und auch hier spielt das "Ich im Wir" eine entscheidende Rolle: Der persönliche Bezug wird immer wichtiger – ebenso wie ein sinnvolles kollektives Engagement. Das Ich entfaltet sich im Kontext eines neuen Wir. Und das heißt auch: Zur eigenen Selbstverortung kann sowohl der Konsum als auch der Verzicht auf Konsum genutzt werden.
Die Konsumhaltung der Shareconomy steht stellvertretend für den Abschied von einem traditionellen Statusdenken. Die klassische Verbindung zwischen sozialem Status und Besitz ist vorbei, der Abglanz eines Marken- oder Produkt-Images auf den Käufer funktioniert nicht mehr. Für Jugendliche ist ein Auto kein Statussymbol mehr, sondern eher eine suboptimale Alternative zu weniger kosten- und ressourcenintensiven Mobilitätsmöglichkeiten wie Carsharing oder Fahrradfahren.
Die neuen jugendlichen Statussymbole sind ideeller Natur: Im Zentrum stehen Erfahrungen, Authentizität, Connectedness, Gesundheit, Nachhaltigkeit. Auch damit treiben junge Konsumenten gesamtgesellschaftliche Trends voran: Sie machen ein neues, immaterielles Statusdenken populär – an dem sich ältere, materiell reichere Generationen orientieren. Wer die Liquid Youth ansprechen will, muss diesen Wandel begleiten und bedienen.
Dass sich jugendliches Konsumverhalten weniger an Produkten als an Erlebnissen orientiert, belegen die Daten diverser Studien. Generell bewerten 18- bis 35-Jährige einmalige Erlebnisse höher als dauerhaften Besitz und richten ihr Konsumverhalten primär auf Genuss und Erlebnisse aus (Neon 2014). Dieser Trend prägt auch einzelne Branchen, etwa den Tourismus: Beim Reisen suchen 25- bis 35-Jährige vor allem nach neuen Erfahrungen, sie wollen alltägliche, authentische Lebenswelten kennenlernen und ihr Wissen erweitern (Mohn 2014).
Um jugendliche Konsumenten in digitalisierten Zeiten zu erreichen, muss das individuelle Kundenerlebnis im Zentrum stehen: die kontextsensitive Ausrichtung auf persönliche Erfahrungen. Zum entscheidenden Erfolgsfaktor für das Jugendmarketing von morgen wird damit die Digital Customer Experience. Denn in der Netzwerk-Ökonomie ist der jugendliche Customer Journey vor allem digital, mobil und social.
Die Liquid Youth sucht nach Resonanz und erwartet Kommunikation auf Augenhöhe. Unternehmen müssen die mystische Distanz der massenmedialen Ära abbauen. So wie die Zielgruppe der Zukunft die einzelne Person ist, müssen auch Unternehmen wie Einzelpersonen agieren: In der Netzwerkökonomie bedeutet B2C-Kommunikation zunehmend eine neue Form von P2P-Kommunikation. Unter digitalen Vorzeichen kann der Kontakt zwischen Unternehmen und Konsument nur als individueller Dialog funktionieren.
Es reicht deshalb längst nicht mehr aus, Signale zu senden und darauf zu hoffen, dass Jugendliche reagieren werden. Vielmehr gilt es, aktiv auf Jugendliche zuzugehen und in ihre digitalen Lebenswelten einzutauchen. Das kann bereits durch eine überraschende Präsenz in jugendspezifischen Medien oder Kanälen passieren. So ließ etwa die Traditionsmarke Rolls-Royce 2014 ihr Kultmodell "Wraith" in einem Xbox-One-Racing-Game auftauchen.
Noch entscheidender ist aber eine kontinuierliche Präsenz in sozialen Medien. Soziale Netzwerke sind für Jugendliche ein natürliches Habitat. Hier wird ihr Konsumverhalten sozialisiert. Denn die Liquid Youth orientiert ihren Konsum zunehmend am Konsum der anderen, an ihren Peer Groups. In sozialen Medien sucht sie nach Erfahrungen, die Informationen vermenschlichen und beglaubigen.
Was sich bei Jugendlichen gut verkauft, geht deshalb immer mehr über das eigentliche Produkt hinaus: Wichtiger sind die Kommunikationen, die sich um die Produkte herum bilden. Im Zentrum stehen persönliche Verbindungen und geteilte Erlebnisse. Der Schlüssel zu einem jugendaffinen Marketing ist daher der Aufbau echter Nähe.
Eine Annäherung an jugendliche Lebenswelten kann und muss auch in der physischen Welt erfolgen. Einen Spielraum dafür bietet zum Beispiel die boomende Festivalkultur. Auch ein gezieltes Eintauchen in trendige Szenen kann große Word-of-Mouth-Potenziale entfalten. Das bewies Sony bereits vor 30 Jahren: Die Platzierung von PlayStation-Areas in angesagten Clubs etablierte Gaming als Teil der Jugendkultur. Ein zeitgemäßes Pendant dazu bilden die Hipster-Events von Hendrick’s Gin, bei denen skurrile Surprise Acts für identitätsstiftende Erlebnisse sorgen: Hier wird nicht auf standardisierte Demografien gezielt, sondern auf komplexe Psychografien – unterstützt von einer Online-Community, die den Erlebnischarakter in die digitale Welt verlängert.
Auf digitale Kanäle können Marketingmaßnahmen nicht mehr verzichten. Insbesondere jüngere Jugend-Jahrgänge denken und leben "digital first" und "mobile first". Prägnant zeigt sich das etwa am Beispiel Youtube. Die gefühlte Nähe zu den Youtube-Stars ist, ebenso wie die Aktivitäten in sozialen Netzwerken, eine Spielart des jugendlichen "Sozialkonsums".
Diese Tendenz zur Orientierung des eigenen Kaufverhaltens am Verhalten der anderen belegt auch die Gruppe der "Creativiteens", die das Zukunftsinstitut 2014 im Rahmen der Studie "Lebensstile für morgen" beschrieben hat: 14- bis 25-Jährige, die hochgradig innovativ und konsumfreudig eingestellt sind. Klassische Werbung geht an ihnen vollkommen vorbei. Was zählt, sind die Ansichten von Gleichgesinnten im Netz. Und die Möglichkeit, sich selbst zu erleben, indem sie die eigenen individuellen Fähigkeiten in kollektiven Kontexten erproben.
Dazu beitragen können sinnstiftende Werte und Haltungen: Junge Konsumenten wollen wissen, wofür ein Unternehmen steht und wie die "inneren Werte" der Waren aussehen. Eine wichtige Rolle spielt dabei eine "Open-Mindedness": ein unternehmerisches Engagement für soziale und kulturelle Diversität. Eine bloße Proklamation dieser Werte reicht jedoch nicht aus, sie müssen auch "gelebt" werden. Auch dabei müssen Unternehmen wie Einzelpersonen agieren, die ihren Kunden authentisch und offen begegnen – und sie dazu motivieren, etwas Gemeinsames zu kreieren.
Die Maßnahmen, mit denen die Liquid Youth heute und künftig erreicht werden kann, haben kaum noch etwas zu tun mit dem, was traditionell unter Marketing verstanden wurde. Das klassische Zielgruppen-Marketing ist passé, unter digitalen Vorzeichen geht es zunehmend um Einbindung und Kooperation, um pure Kommunikation:
Es geht darum, Jugendliche als Co-Consumer und Co-Producer zu adressieren. So kann der Stoff entstehen, aus dem auch das Marketing von morgen gemacht ist: die Authentizität geteilter Erfahrungen.
Die jugendliche Marken-Loyalität besteht im Teilen und Weiterschreiben positiver Geschichten. Unternehmen und Marken müssen deshalb hochwertige und teilbare Erfahrungen kreieren. Und sie müssen Kontakte nicht nur initiieren, sondern dauerhaft pflegen. Je mobiler und situativer die Mediennutzung wird, umso wichtiger wird die kontinuierliche Pflege von Kontakten und Beziehungen. Nur dann werden jugendliche Konsumenten einer Marke auch in wandelnden Umgebungen folgen.
Für Unternehmen gilt es also, in ihre "Beziehungsfähigkeit" zu investieren. Ein Investment, das zugleich große Potenziale im Bereich Big Data erschließen kann. Persönliche Daten werden in einer hypervernetzten Welt zur Basis unternehmerischer Erfolge. Und Jugendliche sind sehr viel eher bereit als ältere Generationen, ihre persönliche Informationen preiszugeben und zu teilen.
Die erste Grundvoraussetzung für ein zukunftsweisendes Jugend-Marketing ist jedoch ein mentales Umdenken: die Öffnung der eigenen Organisationsstrukturen für eine jugendaffine Unternehmenskultur. Das bedeutet auch, jugendliche Mitarbeiter in den eigenen Reihen zu haben. Wer die Liquid Youth als Konsumenten erreichen will, muss sie auch als Mitarbeiter gewinnen.
Dieser Text ist ein Auszug aus der Studie Youth Economy.