Altern als Chance begreifen und die Freiheit im zweiten Lebensabschnitt auskosten: Davon erzählt die Story der neuen Alten. Sie schließen nicht ab, sondern brechen auf – als Freeager.
Von David Mock (06/2016)
Altern als Chance begreifen und die Freiheit im zweiten Lebensabschnitt auskosten: Davon erzählt die Story der neuen Alten. Sie schließen nicht ab, sondern brechen auf – als Freeager.
Von David Mock (06/2016)
Osvaldo Cavandoli wusste es schon vor mehr als 40 Jahren: Das Leben in einer Linie ist eine Illusion – selbst dann, wenn es sich um eine lebendige Linie handelt. Der italienische Cartoonist schuf aus einem weißen Strich eine plastische Figur. "La Linea" ist quirlig, querulant und subversiv, alles andere als stromlinienförmig.
Eine Zeichentrickfigur als Allegorie für das moderne Leben – denn auch das sieht nicht nach Linie aus, sondern nach Zyklen, Brüchen, Zacken und Wellen. Dementsprechend muss man die Phasen des menschlichen Lebens neu betrachten. Das Zukunftsinstitut hat dafür ein eigenes Lebensphasenmodell entwickelt.
Das Modell geht weg vom starren Dreiklang des Industriezeitalters, der da lautet: Zuerst kommen Kindheit und Jugend, dann das Erwerbsalter, schließlich Ruhestand und Alterung. Das Lebensbild des Wissenszeitalters ist bunter und vielfältiger: Die Kindheit ist kürzer, dafür die Jugend länger. In der Postadoleszenz werden jugendliche Verhaltensweisen bis ins fortgeschrittene Erwachsenenalter gepflegt, es folgt die Phase der Rush Hour des Lebens mit Karriere, Kindern und Kraftbedarf. Wo sich dann früher nur noch der Wartesaal für die nahe Rente anschloss, kommt es nun zu einem zweiten Aufbruch. Und dieser geht schließlich in den Un-Ruhestand der aktiven Alten über. Aus linearen Biografien werden zyklische Multigrafien, mit starkem Gewicht auf der zweiten Lebenshälfte.
Der demografische Wandel schreitet voran: 2030 werden rund 47 Prozent der Bevölkerung in Deutschland über 50 Jahre alt sein und 35 Prozent über 60. Um das Jahr 2040 übernehmen dann die Menschen in der zweiten Lebenshälfte die Mehrheit. Im Jahr 2050 werden 52 Prozent der Deutschen über 50 sein, die Über-60-Jährigen werden fast 40 Prozent der Bevölkerung stellen. Die Zukunft bringt also eine Nation mit jeder Menge zweitem Aufbruch und Un-Ruhestand – ein Umbruch voller Bewegung und Chancen. Eigentlich.
Aber: Die Politik macht sich öffentlich Sorgen um eine vergreisende Republik. Die Wirtschaft, für die jahrzehntelang der knackig-fesche Youngster das Leitmotiv war, steht seltsam ratlos vor der kommenden demografischen Revolution. Man hält trotzig fest an der Kernzielgruppe 14-49, auch wenn diese Altersgruppe demnächst in der Minderheit ist – und die neuen Multigrafien das Planen nach fixen Zielgruppen zu einem Fall für die Mottenkiste machen.
Es fehlt eine neue Erzählung, die den Älteren mehr zutraut als Seniorenreisen und das treue Abnehmen von Schmerzgel, hautverjüngenden Cremes und Haftcreme für die Dritten. Denn die Veränderung der Mehrheiten auf dem Markt wird die Wirtschaft verändern. Eine stille Revolution beginnt, die das anachronistische Anti-Aging ersetzt. Getragen wird sie von älteren Menschen, die aus ihrer ersten Lebenshälfte mit all ihren Krisen gestärkt hervorgegangen sind und als Freeager ihr Leben gestalten. Die Gesellschaft formt die Märkte, und sie wird ein immer lauteres Ja zum Altern einfordern.
Die Folge: Wenn die Wirtschaft nicht mehr stark wächst, wird sie umso stärker reifen. Die Stärken des Alters sind Erfahrung, Gelassenheit und Wertebewusstsein, und diese gewinnen ökonomisch prägende Kraft – die aufstrebenden Sinn- und Slow-Märkte sind Vorboten davon. Die neue Erzählung führt also Pro-Aging im Titel: Say it loud, we’re old and proud. Sie erzählt von ungekünstelt coolen, neuen Alten. Was die Freeager können? Allerhand bis alles.
Nehmen wir Friedrich Liechtenstein. 2014 wurde der Fast-60er, mit weißem Vollbart und etwas füllig, zu Mister Supergeil. Mit Sonnenbrille und rauchiger Stimme hauchte er sich durch die Kampagne der Supermarktkette Edeka. Text-Kostprobe: “Super-Uschi, super Sushi, supergeil”. Ein Vollbad in supergeiler Haltbarmilch, garniert mit Müsliflocken. Das Video, in dem Liechtenstein schließlich zur Scanner-Kasse groovt, umschwirrt von einer Model-Formation in Edeka-Schürzen und Helmut Newton-Look, wurde ein Youtube-Renner: Mehr als 16 Millionen Menschen wollten den supergeilen Alten sehen.
Oder das Grandes-Dames-Trio Christiane Hörbiger, Hannelore Elsner und Senta Berger, die 2015 mit dem Appell “Seid nicht altmodisch” für Zalando antraten: drei große Schauspielerinnen, gemeinsam der Inbegriff von Eleganz und Grandezza, inszeniert in feinsten Kleidern und miteinander stolze 223 Jahre alt. Ganz klar: Der Online-Modehändler zielte auf Kundinnen mit Stil und Freeager-Profil ab. Wer sagt, dass alt nicht modisch sein kann?
Cooler Style ist also keine Frage des Alters. Der New Yorker Ari Cohen ist der Begründer des Street-Style-Blogs "Advanced Style". Das Konzept des Blogs unterschiedet sich nur dadurch von allen anderen Mode-Blogs, dass hier ausschließlich alte Menschen gezeigt werden. Bezüglich seiner Motivation sagt Cohen: "From a style point of view, I find older people more interesting because they are of an age where they don’t have to impress anyone and can wear what they want." Einen echten zweiten Aufbruch erlebte auch Eveline Hall: Der Designer Michael Michalsky schickte sie mit 65 erstmals auf den Laufsteg, seitdem ist die Hamburgerin eines der ältesten und international gefragtesten Models.
Viele der neuen Freeager sind in den Roaring Sixties des 20. Jahrhunderts groß geworden. Gehört haben sie damals "My Generation" von The Who, die Hymne der aufmüpfigen zornigen Jungen: "I hope I die before I get old" sang Roger Daltrey, während Pete Townshend mit seiner Gitarre das Bühneninventar zu Kleinholz verarbeitete. Heute sind die beiden alt – und das Gegenteil von tot. Daltrey ist 72, Townshend 71, und die Band ist noch immer musikalisch aktiv, tourt sogar regelmäßig durch die Welt. Ein Hit aus ihrer Rockoper "Tommy" (1969) eignet sich glänzend als Song für die neuen Alten: "I’m Free".