Der große Medien-Exodus

Vom PIED- zum MIPS-Syndrom: Was Pornokonsum mit der Verrücktheit der Medien zu tun hat – und warum in diesem Sommer immer mehr Menschen aus dem medialen Overkill ausgestiegen sind.
Von Matthias Horx

Unsplash / Ben White / CC0

In diesem Sommer habe ich etwas Radikales getan. Ich habe abgeschaltet. Ich habe den Flachbildschirm von seinen Kabelverbindungen befreit, das Kabel der Sat-Box und der Settop-Box aus der Steckdose gezogen, und alles in den Keller getragen. Ich habe die analogen und digitalen Abos von fünf Zeitschriften gekündigt, soweit das möglich war – elektronische Abos sind so zäh, dass man den Kündigungs-Button nur schwer findet. In meinem Browser habe ich die Links zu allen Nachrichtenseiten gelöscht. In meinem Handy habe ich bis auf sechs alle Apps ausgeschaltet. Ich nutze es jetzt im Wesentlichen zum Telefonieren, und ein bisschen SMS mit Freunden und Familie. Meine Mails schicke ich nur noch vom Computer aus, den ich von allen Medienkanälen und Pop-up-Mitteilungen befreit habe.

Bin ich ein einsamer Medienverweigerer, ein Kauz? Keineswegs. In diesem Sommer hat sich eine regelrechte Epidemie entwickelt. Freunde, Bekannte, Unbekannte legten plötzlich in einer stummen, synchronen Entschlossenheit ihre Smartphones beiseite, entsorgen Fernbedienungen in Schubladen, verabschiedeten sich von Facebook, stornierten Twitter. Verabschiedeten sich vom unendlichen Strom der Bilder, Filme, Ängste, Aufregungen, Befürchtungen, noch mehr Befürchtungen, Wir sind Erregungs-Junkies geworden. des Horrors, Terrors, Schreckens und der Angst. Aber auch vom unendlichen Klingeln, Anfragen, Gestörtwerden, Beantworten-Müssen, Erreichbar-Sein.

Warum jetzt? In diesem Sommer, in dem die Welt angeblich "aus den Fugen geraten ist, und nie mehr so sein wird wie früher" – so konnte man es in Hunderten von Welt-Kommentaren und Feuilleton-Betrachtungen lesen –, hat irgendetwas eine kritische Grenze erreicht. Vielleicht waren es die Terrorattentate von München und die hysterische Berichterstattung darüber, die zeigte, wie vernetzte Angst irgendwann die Realität überschreibt. Irgendwie entstand ein Tipping Point, an dem wir verstanden: Nicht die Welt hat sich (so sehr) verändert. Sondern unsere Wahrnehmungs-Struktur. Wir sind Erregungs-Junkies geworden, die mit ihren Aufmerksamkeit all das hervorbringen und mästen, was sie fürchten. In der Trump-Verachtung, in der jeder immer nur seine eigene Fassungslosigkeit formulieren kann, stärken wir das Phänomen Trump. Die Aufregung über den Brexit, die Angst vor den Terroristen, produziert genau jene Phänomene.

Wir alle leben, wie es die "Neue Zürcher Zeitung" formulierte, in einer "Bewirtschaftung von Launen". Einer riesigen, kapitalistischen Angst-Industrie. Wenn uns wirklich an der Zukunft gelegen ist, bleibt uns nur, aus diesem Spiel auszusteigen. Das ist hart, aber es lohnt sich. Denn erst dann verstehen wir, wie drastisch sich in den vergangenen Jahrzehnten der öffentliche Raum der Weltwahrnehmung verändert hat.

Polarisierung

Ich erinnere mich an die ersten Talkshows im deutschen Fernsehen, sonntagmittags, wenn meine Großmutter wunderbare Hausmannskost auftischte. Der televisionäre Zigarettenqualm von Werner Höfers “Frühschoppen” hat sich in meinem Gedächtnis für immer mit dem Dampf von Kartoffeln und feinen Rindsrouladen-Geschmack verbunden. Es ging bei diesen Diskussionen sprichwörtlich um einen Akt des Verdauens. Der sonore Ton der (meist männlichen) Experten suggerierte Bewältigung durch Vernunft und Distanz. Die Welt war keineswegs heil, aber sie hatte einen inneren Zusammenhang, eine Konsistenz, ein positives Aber. Die Sowjets waren zwar brandgefährlich, aber der Westen war verlässlich, er hatte eine Strategie ... Die Konjunktur war auch damals ständig gefährdet, aber man würde etwas dafür tun ...

In den 1980er- und 1990er-Jahren wurden Talkshows dann wunderbar bunt und krawallig: Nina Hagen zeigte vor laufenden Kameras den G-Punkt, Dany Cohn-Bendit rührte mit dem emotionalen Charme der Revolte, Freaks, Punker, Rocker erwiesen sich als nette Nachbarn von Seebären, Laubenpipern und anderen Normalos. Wir übten Pluralismus und Toleranz, das Andere wurde Teil unseres Welt- und Selbstbilds. “Das Private ist politisch” – dieses alte Motto der Studentenrevolte wurde auf spielerische Weise eingelöst. Damals entstand eine Generationserfahrung: Integration kann tatsächlich funktionieren, Vielfalt eint uns.

Heute sind Talkshows – besonders die im öffentlich-rechtlichen Es geht nicht um Wissen, sondern um Besserwissen. Fernsehen – überwiegend abgekartete Inszenierungen von Erregungen. Es geht nicht um Zukunft, es geht um Zorn. Es geht nicht um Wissen, sondern um Besserwissen. Es geht nicht um Reflexion, sondern um Unterstellung und Zuspitzung. Es ist kein Zufall, dass PolemikerInnen wie Sarah Wagenknecht und Frauke Petri zum stehenden Interieur der Talkshows geworden sind. Sie liefern die Ware, die in der Erregungsökonomie am meisten gebraucht wird: rhetorische Empörung.

In diesen Talkshows geht es nicht um die Bewältigung der Zukunft. Es geht um Zuweisung von Schuld. Und Schuld hat immer “die Politik” und “der Politiker”. Politiker sind grundsätzlich unfähig, Kompromiss-Weicheier, wahrscheinlich korrupt. Und weil das so ist, müssen wir Angst haben! Immer mehr Angst haben! Darauf zielen praktisch alle Moderatoren-Fragen. Angst erhöht und hält die Quote. Angst wird zur Daseins-Legitimität schlechthin. Der Bürger, der vom dem Rand des Publikums aus sein Opfer-Plädoyer, seine Beschwerde, vorträgt, ist immer im Recht. Der Angstbürger ist der Befähigte, der Ermächtigte unserer Zeit.

Alle lebenswerten Gesellschaften sind komplex. In komplexen Gesellschaften sind alle politischen Fragen Abwägungs- und Kompromissfragen. Alle sind an allem beteiligt, als Bürger, Konsumenten, Meinungsbildende, Akteure und Empfänger. Lösungen sind nur im “Sowohl-als-auch”-Modus zu haben. Die ewige Spannung zwischen Markt und Staat, Individuum und Gemeinschaft konstituiert den Fortschrittsprozess. Genau diesen Konnex löst der Erregungs-Diskurs auf: Im Namen der moralischen Eindeutigkeit kehren die alten dummen Spaltungen zurück: Rechts gegen Links, Oben gegen Unten, Politiker gegen Bürger, Kleine Leute gegen Eliten, Experten gegen den “Volksverstand”. Die Talkshows von heute sind – und natürlich ist das übertrieben polemisch zugespitzt – die eigentlichen Brutstätten des Wut-Populismus, der “Vertrumpung” der Welt.

Skandalisierung

Im menschlichen Alltag hat der Skandal eine erfrischende Wirkung – als Überraschungs-Effekt darüber, dass das Normale, die Norm, der Anstand, eine andere Seite hat. Im Skandal lernen wir, dass Politiker auch nur Menschen sind, Stars ihr Leben auch nicht wirklich in den Griff bekommen und Ruhm uns nicht automatisch zu glücklichen Menschen macht.

In einer Welt, in der der Skandal Wirklichkeit konstituiert, sieht die Sache allerdings völlig anders aus.

Ein Beispiel ist der Gina-Lisa-Lohfink-Skandal. Ein unsicheres Sternchen, dass sich in erotische Extrem-Situationen begibt, scheitert an ihren eigenen Abgründen und Fehleinschätzungen. Das wäre allenfalls Futter für drittklassige Boulevardzeitungen. Im Rahmen der heutigen Skandalkultur wird daraus jedoch eine bizarre rekursive Schleife, in der das Opfer gleichzeitig Täter und Manipulator des medialen Geschehens ist. Der “Spiegel” schilderte in seinen Lohfink-Gerichtsreportagen jedes pornographische Detail dieses Verdachtsirrtums – und machte sich so zum Mitspieler bei einem Spiel, in dem es nicht mehr um Aufdeckung, sondern um Skandalproduktion geht.

Der historische Tipping Point in Sachen Skandalproduktion war sicher die Hetzjagd gegen Bundespräsident Christian Wulff, wo die Medien in nie gekanntem Ausmaß im Gleichschritt marschierten. Die molekulare Form dieser Reizerzeugung dominiert heute die mediale Sprache des Internets in Form des so genannten Clickbaitings. Es erfolgt eine Skandalisierung des Alltags, hinter jedem Katzenfoto, jedem persönlichen Drama lauert ein Weltgeheimnis, ein unwiderstehbarer voyeuristischer Reiz – und so entsteht ein medialer Wahn, in dem alles gleichzeitig verrückt und gleich-gültig ist:

  • "8 Gründe, warum Ärsche wie Gesichter sind"
  • "Ein Kind fällt auf die Gleise – unfassbar, was dann passiert!!!"
  • "Polizei zeigt Todesschuss auf 12-Jährigen"
  • "Männer testen Sesxspielzeug – Ergebnis ist unfassbar lustig"

Die höchste Form der Skandalisierung ist das Verschwörungsgerücht. Für das menschliche Hirn mit seiner ewigen Sehnsucht nach Skandalismus ist nicht harmlos, er kann eine tödliche Waffe sein. Kohärenz und Sinn ist die Verschwörung jener Anker, an dem man sich wieder aufrichten kann. Ein Gerücht geht in die Welt, mit all seiner zerstörerischen Wirkung. Skandalismus ist nicht harmlos, er kann eine tödliche Waffe sein. Manche Gerüchte werden, wie wir heute wieder ahnen, leicht zu Kriegsgründen

Negativismus

Vielleicht begann es schon in den frühen 1980er-Jahren, als der “Spiegel” einen der längsten Magazintexte aller Zeiten veröffentliche. Die achtteilige Serie über den Zeitgeist der Republik hieß “Die deutsche Depression”, sie zeigte ein düsteres Land im Niedergang, mit Menschen voller Selbstzweifel und Zukunftsangst, Angst vor Arbeitslosigkeit und Flucht-Phantasien aus der Wirklichkeit (Australien, Valium, Drogen). 80 Seiten, die jenen düsteren Selbstzweifel vorwegnahmen, der sich heute längst zum Common Sense entwickelt hat.

Der Autor, Jürgen Leinemann, war einer der sensibelsten Journalisten der Republik. Es ist zu vermuten, dass er seine inneren Seelenzustände auch auf seine Umwelt projizierte. Aus meiner eigenen Journalisten-Zeit kann ich mich noch an den jugendlichen Eifer erinnern, mit dem man als junger Journalist die Welt verbessern wollte. Man wählte immer jene Signale, mit denen man die höchstmöglichste Wirkung erzeugen konnte. Die schreckliche Zahl. Das apokalyptische Anzeichen. Die Fürchterlichkeit im Kleinen, die das monströse Große beweisen sollte. So wurde die Umweltbewegung groß: Das Sterben des Waldes, der Wale, der Menschen. So wurde auch die “soziale Frage” zum großen Thema unserer Tage:

  • Die Welt wird immer ungerechter.
  • Aufstieg ist nicht mehr möglich.
  • Der Kapitalismus versagt auf breiter Front, weltweit.
  • Die Mittelschicht zerbröckelt.
  • Armut und Elend werden immer schlimmer.

Dass wir nach wie vor in einer lebendigen, vielfältigen, dynamischen Gesellschaft leben, in der jede Menge sozialer Mobilität vielleicht in anderen Formen stattfindet als im klassischen Karriere-Aufstieg des Industriezeitalters – das kann noch nicht einmal gedacht, geschweige denn öffentlich gesagt werden. Unweigerlich folgt der Betroffenheits-Killer: "Und was sagen Sie denn der arbeitslosen Putzfrau, die nun von Hartz IV leben muss???"

Wir alle sind durch das berühmte “Spiegel”-Aber mental sozialisiert. In diesem negativen Aber wird jede positive Entwicklung in einem negativen Gesamtzusammenhang aufgelöst:

  • Ein neues Gemeinschafts-Wohnprojekt wird in Berlin eröffnet – aber dadurch steigen die Mieten.
  • Die Lebensqualität der Großstädte hat sich rapide verbessert – aber nun werden schreckliche Folgen der Gentrifizierung sichtbar, soziale Spaltung droht.

Auf der anderen Seite sehen wir oft nicht das Positive im vermeintlich Negativen:

  • Deutschland Straßen sind marode: Das weist darauf hin, dass der Staat nicht mehr in der Lage ist, Infrastrukturen zu finanzieren – ein Zeichen für den bevorstehenden Staatsbankrott, den Niedergang Deutschlands ... Könnte man das nicht auch so sehen: Nach langer Benutzung müssen einige Straßen und Brücken renoviert werden. Das erzeugt Arbeitsplätze und Nachfrage nach vernünftigen Priorisierungen zukünftiger Verkehrsplanung.
  • Neue Arbeit? Die Veränderung der Arbeitswelt hat uns nichts als Prekarisierung gebracht! Dass Kreativität, Kooperation und Arbeits-Flexibilität gestiegen sind, dass viele Menschen (noch nicht alle) heute anders arbeiten, selbstbestimmter, teamorientierter arbeiten – who cares?

Obwohl Deutschlands Leitmagazin inzwischen eine Art Positive-Washing betreibt – eine Kolumne für positive Trends unter dem durchaus ironischen Titel “Früher Wer im Namen des Kritischen stets das Schlechte hervorstellt, zerstört das Immunsystem der Gesellschaft. war alles besser” –, scheint die Lage so hoffnungslos wie nie. Negativismus ist ansteckend. Auf diesem Humus, nicht auf dem rechtsradikaler Weltbilder, wuchert der Hass-Populismus. Der alte Goethe-Satz, nach dem der Geist, der stets das Böse will, immer auch das Gute schafft, hat auch eine Umdrehung: Wer im Namen des Kritischen stets das Schlechte hervorstellt, zerstört das Immunsystem der Gesellschaft. Denn Menschen neigen zu Revolten. Gegen das rein Negative nehmen sie zur Not ihren ganzen Hass zusammen.

PIED und MIPS – Krankheiten der übermedialen Ära

Was passiert, wenn man zu viele Pornos schaut? Nein, keine Rückenmarkserkrankung und keine Gehirnerweichung. Aber der ständige Genuss von Pornographie führt zu einem fatalen Nebeneffekt: Man wird impotent.

In den USA wird derzeit das PIED-Syndrom heiß diskutiert: Porno-Induced Erectile Disfunction. Millionen von jüngeren Männern, die mit der alltäglichen Verfügbarkeit von Pornos im Internet aufgewachsen sind, machen die Erfahrung, dass sie plötzlich nicht mehr mit einer Frau schlafen können. Das hat keine körperlichen, sondern mentale Ursachen. Die "Scripts" der Pornos, meist nach dem immer selben Muster gefilmt, "überschreiben" die eigenen sensuellen und realen Wahrnehmungen. Wie sich Frauen im wirklichen Leben beim Sex verhalten, findet das Hirn dann nicht mehr erregend. Starker Porno-Genuss prägt ein pornographisches Pseudo-Selbst aus, das im Realraum der Erotik hilflos ist. Deshalb gibt es jetzt eine starke Por-No-Bewegung: Immer mehr junge Männer verzichten ganz auf Pornos – nicht aus moralischen oder religiösen Gründen, sondern um Sex haben zu können.

Stellen wir uns jetzt vor, der übermäßige, dauerhafte, multimediale "Genuss" von Medien hätte einen ähnlichen Effekt auf unsere Welt-Wahrnehmung. Das ist das MIPS: das Medial Induzierte Paranoia-Syndrom. Es macht uns "impotent" in Bezug auf die Wirklichkeit. Je mehr wir über die Welt wissen – zu wissen glauben – desto weniger wissen wir. Je mehr wir uns "informieren", desto verwirrter, unsicherer, uninformierter Je mehr wir über die Welt wissen – zu wissen glauben – desto weniger wissen wir. werden wir. Wir können uns selbst nicht mehr als Handelnde vorstellen. Unsicherheit und Ambiguität wird in den Tiefenschichten des Hirns (Gefahrenabwehr) stets in Angst übersetzt. Flüchten oder Kämpfen. Daraus entstehen regelrechte paranoische Schübe, die sich – wiederum durch das mediale Netz verstärkt – zu fatalen kollektiven Hysterien auswachsen können. Ganze Menschengruppen laufen Amok gegen Dämonen, die in ihrem Hirn durch mediale Echos entstanden sind.

Es sind vor allem drei Treiber, die das MIPS-Syndrom forcieren:

  1. Erregungs-Primat: Medien, ob digital oder analog, kämpfen heute an allen Fronten um eine zentrale Ressource: Aufmerksamkeit. Deshalb werden Abweichungen vom Gewohnten, Erwarteten oder Normativen stets übertrieben, Gefahren beschworen, Skandale verstärkt. Überschriften, die ja am meisten gelesen wären, suggerieren ständige Endzeit-, Zerfalls- und Katastrophenzustände, egal wie klein der Anlass ist. Die Welt wirkt in dieser Brille wie ein ständig bedrohliches Reich des Chaos und der Bedrohungen.
  2. Botschafts-Layering: Die Vielfalt der Medienformate und ihrer Intentionen erzeugt ein inneres Paradox, das sich im "Überlaufen" von einer Botschaftsebene auf eine andere ausdrückt. Dadurch entsteht eine direkte Verwechslung von Realität und Fiktion. Im Deutschen Fernsehen wurden wiederholt Tatorte, in denen es um grauenhafte (fiktive) Verbrechen ging, als Grundlagen für nachfolgende Talkshows benutzt. Apokalypse-Filme, in denen die ganze Welt zertrümmert wird, sind zwar im Bereich "Unterhaltung" angesiedelt, aber unser Hirn kann unter dem Trommelfeuer dystopischer Bilder irgendwann nicht mehr unterscheiden. Roland Emmerichs neuester Super-Katastrophenfilm landet irgendwann, wenn unsere mentalen Abwehrkräfte schwach sind, direkt in unserem Unterbewusstsein – als Botschaft, dass die Welt real zu Ende geht.
  3. Nicht-Verankerung und Vertrauensverlust: Durch mediale Überkonkurrenz sind Medien gleichzeitig in struktureller Weise "korrupt" geworden. Wir wissen nicht mehr, woher Botschaften wirklich stammen. Werbung ist heute als "Content" getarnt, “gekaufte” Botschaften finden sich in fast allen Medien, in vielen Artikeln sind versteckte lobbyistische Botschaften enthalten. Neugier-Techniken wie "Clickbaiting", bei dem geschickte psychologische Tricks uns zum Anklicken locken sollen, verwirren uns zusätzlich. Wir können nicht mehr wissen, wer der eigentliche Adressat, was die wirkliche Intention einer Information, eines Diskurses, einer Kommunikation ist.

Das alles zusammen führt dazu, dass der eigentliche Sinn von Medien – die Synchronisation von Wahrnehmung und Welt-Modellen – komplett ausgehebelt wird. Und deshalb ist der Moment, in dem wir generell abschalten, so befreiend: In dem Moment, wenn wir unsere Abhängigkeit vom gigantischen Medienraum durchbrechen, fängt unser Hirn wieder so an zu funktionieren, wie es von der Evolution "programmiert" ist: Als Wissensmaschine zur Welt-Bewältigung. Wir werden wieder Realitäts-potent. Wir verstehen wieder, mit welchen realen Verbindungen wir in die Welt gehören – und dass die Welt nicht so konstruiert ist, dass sie uns vernichten will.

Wer sich vom medialen System verabschiedet, erlebt eine Befreiung: Man tritt ins Leben zurück. Der Nachbar wird wieder ein realer Mensch. Gespräche mit Freunden werden plötzlich reale Kommunikationen statt Teil des unendlichen Stroms der Botschaften und Nachrichten auf der Smartphone Screen. Das Engagement der Welt gegenüber wird nicht kleiner, sondern größer. Die Gleich-Gültigkeit verschwindet. Die Freundin, die sich für Flüchtlinge engagiert, bewirkt ja plötzlich wirklich etwas – mit realen Menschen, mit echten Erfahrungen! Das Private wird Politisch in einem neuen, konkreten Sinne.

Es ist auch keineswegs so, dass man plötzlich uninformiert ist. Das Wichtige erfährt man fast genauso schnell wie vorher. Aber eben nicht mehr in jenen ungeschützten elektronischen Momenten, in denen einen im Zug, im Auto, am Flughafen die "News" überfallen. Wenn man durch den Mund eines Menschen von einer Katastrophe erfährt, teilt man bereits etwas in einem gemeinsamen Erleben.

Die Bewegung der medialen Verweigerung, die sich in diesem Sommer konstituiert hat, ist vielleicht der wichtigste Trend unserer Tage. Wir erringen die Freiheit des inneren Diese erleuchtete Ignoranz tut uns unendlich gut, weil wir in ihr endlich verstehen, dass wir nicht Schuld sind an allem Elend der Welt. Reagierens zurück, von der der Philosoph und Psychologe Viktor Frankl als einziger wahrer Freiheit des Menschen sprach. Diese erleuchtete Ignoranz tut uns unendlich gut, weil wir in ihr endlich verstehen, dass wir nicht Schuld sind an allem Elend der Welt. Es ist genau dieser süchtig machende Schuld-Mechanismus, durch den wir an den Haken der Mediensucht geraten sind. Und der unsere Ohnmacht zementiert.

Erst wenn wir die Kulturtechnik des Umgangs mit einer übermedialisierten Welt lernen, wird Zukunft wieder zu jener genuin menschlichen Perspektive, in der wir selbst, unser Handeln, unser Wünschen, unser Tun, eine Bedeutung haben. Dann werden wir auch wieder andere, bessere Medien finden und gestalten.

Übrigens: zwei Abonnements seriöser Zeitungen habe ich behalten. Gedruckt auf Papier, aber auch lesbar auf dem Schirm.

Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

Dossier: Medien

Dossier: Medien

In der Medienwelt von morgen werden sich Geschichten noch weiter von ihren Trägermedien lösen und alte Denkschemata in „Zielgruppen“ obsolet machen. Im Zentrum strategischer Überlegungen wird die individuelle Nutzungssituation stehen - und damit auch die Frage, ob ein Medium Diffusions- oder Fokusmedium sein will. Den Medien von morgen gelingt es, beides miteinander zu verbinden.

Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Matthias Horx

Matthias Horx ist der einflussreichste Trend- und Zukunftsforscher im D-A-CH-Raum und Experte für langfristige Entwicklungen in Gesellschaft und Wirtschaft.