Der Politiker der Zukunft hat die Macht, weil er – technisch gestützt – besser zuhören kann. In Zukunft wird die Demokratie kollektiver und demokratischer sein als je zuvor
Information Politics: Die Zukunft der Politik
Werden wir in Zukunft nicht mehr von Politikern, sondern vom anonymen Schwarm der Internet-User regiert werden? Eine Frage, die eng gekoppelt ist an die Frage der Informationsverarbeitung und die Rolle der Medien. Medien bestimmen in großem Maße, wie wir die Welt sehen. Was also bedeutet es für die Politik, wenn die Medien sich in einem massiven Umbruch befinden? Was, wenn künftig alternative Meinungsbildung über Kanäle jenseits der alten Deutungsmaschinen erfolgt? Wie kann den neuen Bedürfnissen der Bürger nach mehr Partizipation entsprochen werden, ohne im Chaos nie enden wollender Diskussionen und Shitstorms zu versinken?
Das klassische Gefüge der Politik ist schon jetzt gründlich durcheinandergebracht. Politik kann sich nicht mehr über den Image-Ansatz der vergangenen Jahrzehnte profilieren, sondern muss eine neue Technik lernen: bessere Fragen formulieren, auf die der gesellschaftliche Diskurs dann antworten kann. Die Frage an den Politiker der Zukunft lautet daher: Wie lässt sich persönliche Autorität, Macht und die Verantwortung eines erfolgreichen Politikers mit der neuen politischen Kultur vereinbaren, die durch die neuen Medien entsteht?
Grassroots: Obamas Wahlkampf-Vorbild
In Barack Obamas erfolgreichem Wahlkampf von 2012 kamen zwei Faktoren immer wieder zur Sprache: die Mobilisierung von Wählern durch Wähler zum einen und das „Micro-Targeting“ bestimmter Was Obama seinen Wählern bot, war auch das Gefühl, persönlich etwas verändern zu können Wählergruppen zum anderen. Donald Green, Politik-Professor an der Universität Columbia, sagte im Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Wer dachte, dass man mit einem Bombardement von TV-Spots gewinnen kann, hat sich getäuscht.“ Das Fernsehen, so Green, stößt als Wahlkampfmedium an seine Grenzen. Besonders im Verhältnis zu den Kosten, die mit einem Sendeplatz im landesweiten TV einhergehen, ergäben lineare Sender-Empfänger-Strategien, die nur auf Masse setzen, keinen Sinn mehr.
Natürlich haben nicht nur Republikaner, sondern auch Demokraten 2012 übers Fernsehen Werbung gemacht. Doch viel entscheidender als dieser Frontalwahlkampf, der in alter Manier auf Massenwirkung setzt, waren für Obamas Strategie die viralen Effekte, die sich sowohl in sozialen Online-Netzwerken als auch in Offline-Nachbarschaften beobachten lassen. Ein entscheidender Erfolgsfaktor Obamas war die Mobilisierung seiner Wähler. Damit gab ihnen der Wahlkampf der Demokraten sozusagen eine Plattform für das eigene Aktionspotenzial:
Das tiefsitzende Bedürfnis der Bürger nach Partizipation und Mitbestimmung, dieser wichtige politische Trend des jungen 21. Jahrhunderts, konnte sich in diesem Wahlkampf manifestieren. Was Obama seinen Wählern bot, war auch das Gefühl, persönlich etwas verändern zu können.
In Zeiten sinkender Wahlbeteiligung ist das Thema Mobilisierung von Nichtwählern auch in Deutschland höchst relevant. So machte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sie explizit zum Wahlkampf-Ziel der SPD. Aber auch wahlkampf- und parteienunabhängig wird für mehr Wahlbeteiligung gearbeitet: Die Politikfabrik, eine ehrenamtliche Studentenorganisation, die auch den Wahl-o-Mat entwickelt hat, veranstaltet zur Bundestagswahl 2013 eine Kampagne mit dem Titel „Wahl Gang“ (sprich englisch: Wahl-Gäng). Die Kampagne soll junge Menschen für Politik interessieren und zum Wahlgang motivieren. Sie bietet Schülern Minipraktika an, bei denen sie Abgeordnete für einen Tag begleiten und anschließend auf der Website über ihre Erfahrungen bloggen können. Zudem werden in Schulen und Ausbildungsbetrieben Podiumsdiskussionen veranstaltet.
Big Data
Fast noch spannender ist der zweite wichtige Erfolgsfaktor im US-Präsidentschaftswahlkampf von 2012, der immer wieder zur Sprache kommt: das sogenannte Micro-Targeting. Die Demokraten arbeiteten hierbei auf einer gewaltigen Datenbasis mit einer so stark verfeinerten Zielgruppenlogik, dass statt Zielgruppen eigentlich schon Individuen angesprochen wurden. Das hatte natürlich auch seinen Preis. Im Wahlkampf 2012 war Mitt Romneys Statistik-Team nur ein Zehntel so groß wie das von Obama. Der amtierende Präsident setzte im Wahlkampf ganz auf Big Data: Die schiere Masse an Daten und neue Rechenpower gab Obamas Strategen vollkommen neue Möglichkeiten. Entscheidend war vor allem die neue Herangehensweise. Von dem alten Denken in demografisch bedingten Zielgruppen hatten sie sich verabschiedet und stellten tatsächlich den individuellen Wähler in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes. Diese neue Perspektive auf die Wähler ermöglichte eine geschickte Verknüpfung der quantitativen Daten, also der reinen Zahlen, mit qualitativen Daten. So ließ das Wahlkampfteam die Wähler Tagebuch führen, um Einblick in ihre Leben, Hoffnungen, Wünsche und Enttäuschungen zu gewinnen. Um eine persönliche Beziehung zum individuellen Wähler aufzubauen, ließen sie die rein politische Sphäre hinter sich und versuchten, den Alltag ihrer Wähler im Detail kennenzulernen.
Die Verknüpfung dieser qualitativen mit den vorhandenen quantitativen Daten gab den Ausschlag in diesem hyperindividuellen Wahlkampf. Das Wahlmännersystem der USA ist einer der Gründe dafür, dass bezweifelt wird, dass die Ergebnisse der US-Wahlkampf-Analysen sich ohne Weiteres auf andere Demokratien wie etwa Deutschland übertragen lassen. Der Präsidentschaftskandidat muss nur die einfache Mehrheit der Stimmen eines US-Bundesstaates bekommen, um diesen Staat zu gewinnen. 2012 zählten elf der fünfzig Staaten als „Swing States“, bei denen nicht schon von vornherein feststand, welche Partei sie wählen würden. Für den allergrößten Teil der Wähler steht der Ausgang der Wahl also lange vor dem Wahlkampf fest, und die Kandidaten kämpfen im Endeffekt nicht um alle amerikanischen Wählerstimmen, sondern nur um den kleinen Teil, der die einfache Mehrheit in diesen Swing States ausmacht. Dass es also nur um ein paar Tausend Bürger geht und nicht um Hunderte Millionen, macht das Micro-Targeting im Prinzip natürlich einfacher. Doch diese paar Tausend sind nicht bei jedem Wahlkampf dieselben; man muss sie erstmal finden.
Jenseits der Telekratie
In der Vergangenheit waren Wähler die Empfänger (oder Opfer) massenmedialer Botschaften; und Starpolitiker waren die „Sender“. Jetzt, da die Wähler selbst zu „Sendern“ werden, müssen Politiker lernen, zuzuhören. Eine tragfähige Politik der Zukunft ist keine anarchistische Schwarm-Politik, in der es keine Machthaber mehr gibt. Aber die Machthaber der Zukunft respektieren den Schwarm. Sie haben offene Augen und Ohren für die Bedürfnisse der massenhaft Einzelnen. Sie lassen sie mitreden und geben ihnen eine Plattform, um sich am politischen Geschehen zu beteiligen. Die Politiker der Zukunft werden den Bürgern die Möglichkeit geben, sich für Anliegen einzusetzen, die ihnen wichtig sind – sie werden individuelle Verschiedenheit anerkennen und zu ihrem Vorteil nutzen.
Als Anfang Juli Die neue Kardinalfrage für Politiker lautet: Was kann morgen überhaupt noch Autorität im Sinne von Glaubwürdigkeit erzeugen? 2013 der neue Duden erschien, waren viele neue Wörter darin aufgenommen – unter anderem „QR-Code“ und „Arabellion“. Andere Wörter hingegen sind in dieser Auflage nicht mehr vertreten, denn sie werden kaum noch verwendet, und kaum jemand weiß noch, was sie bedeuten. Eines dieser Wörter ist „Telekrat“: ein „Machthaber, der sich auf seinen Einfluss über die Telekommunikationsmedien stützt“, so die Duden-Definition. Aber ist dieses Wort tatsächlich veraltet?Wikipedia leitet von „Telekratie“ direkt weiter zu „Mediokratie“, und schon befindet sich der Cyber-Flaneur mitten in einer quicklebendigen Diskussion. „Die Mediokratie (dt. Medienherrschaft; auch Mediakratie, Telekratie oder Videokratie genannt) ist eine Medientheorie sowie vor allem ein Begriff der Politikwissenschaft, wonach politische Entscheidungen und Diskussionen sowie die politische Kommunikation in modernen Demokratien nicht mehr primär von den politischen Parteien, sondern zunehmend von den Interessen der Massenmedien, jedoch ebenso von den Einflussmöglichkeiten von Politikern auf diese geprägt werden“, lautet die Definition der Wikipedia-Schwarmintelligenz.
Politikwissenschaftler unterscheiden vier Phasen auf dem Weg zur bisherigen Telekratie (siehe Grafik):
- 1. Zuerst werden die Medien zur wichtigsten Vermittlungsinstanz zwischen Bürgern und Politikern.
- 2. Im zweiten Schritt werden Medien unabhängig von politischen Institutionen; sie professionalisieren und kommerzialisieren sich.
- 3. Drittens funktionieren nicht nur die Institutionen, sondern auch die Inhalte der Medien nach ihrer eigenen Logik.
- 4. Erst vor wenigen Jahren kam eine vierte Phase der Medialisierung hinzu: die Phase, in der die Politik sich an die Medienlogik anpasst. Die Erfordernisse der medialen Darstellung fangen an, das politische Handeln zu bestimmen; die Politiker „unterwerfen“ sich den Medien
Deutschland, so der Stand der Politikwissenschaft, werde nicht mehr von Politikern, sondern von Medien regiert. In dieser vierten Phase der Medialisierung angekommen, befinden wir uns nun jedoch in einer massiven Umbruchssituation, die vor allem technisch bedingt ist. Die Medien verändern sich. Und zwar nicht nur ein bisschen. Die digitale Revolution schreibt die Spielregeln des Medienbetriebs vollkommen neu und stellt damit auch den politischen Betrieb auf den Kopf. Der technische Wandel führt die Medien weg vom Broadcasting-Ansatz und damit Politiker weg von den alten Formen, ein starres Bild, ein unvergängliches Image zu erzeugen. Der mediale Wandel bringt zudem vor allem völlig neue Möglichkeiten, ein solches Image zu zerstören. Die neue Kardinalfrage lautet daher für den Politiker: Was kann morgen überhaupt noch Autorität im Sinne von Glaubwürdigkeit erzeugen? Wahlen gewinnt, wer diesen Umbruch wahrnimmt und ihn vorantreibt, anstatt sich bloß anzupassen. In der aktuellen Telekratiediskussion geht es schon längst nicht mehr darum, ob ein Politiker sich den Gesetzen der Medien anpassen sollte, sondern um das Wie – vor allem in Bezug auf die neuen Medienkanäle.
Bild, BamS und Glotze
Wer erinnert sich noch an die Kinofilme der 90er Jahre, in denen jugendlich wirkende amerikanische Präsidenten die Hauptrolle spielten? Blockbuster wie „Independence Day“ und „Airforce One“ bauten ein Helden-Image auf, das nachweislich als Popularitätsgewinn auf den damaligen, jugendlich wirkenden amerikanischen Präsidenten Bill Wahrnehmungs- und Beziehungsmuster aus anderen medialen Zusammenhängen werden auf die Beziehung zwischen Wähler und Politiker übertragen Clinton abfärbte. In entsprechend kleinerem Rahmen war ein ähnlicher Effekt zur selben Zeit auch in Deutschland zu beobachten, als Bundeskanzler Gerhard Schröder unter anderem in der TV-Serie „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ auftrat. Die Medialisierung der Politik war natürlich nie auf die USA beschränkt, das Land, in dem Schauspieler zu Gouverneuren (bzw. Gouvernatoren) gewählt werden – auch in Deutschland war vom Medienkanzler Schröder die Rede. Seine Aussage, er brauche nur „Bild, BamS und Glotze“ zum Regieren, wurde Legende. Die ganze Zeit um die Jahrtausendwende herum war in Deutschland geprägt von der Berliner Republik, die so mediensüchtig war, dass es heute ein Buch über sie gibt, mit dem Titel „Republik der Wichtigtuer“.
Politik als Unterhaltung
Neben „GZSZ“ und „Independence Day“ beteiligt sich ein weiteres Gespenst aus den 90er Jahren überraschend an der aktuellen Telekratie-Diskussion: Marusha. Marusha, bürgerlich Marion Gleiß, ist eine deutsche Techno-DJane und wurde 1994 mit einer Cover-Version von „Somewhere over the Rainbow“ zum Star des Musikfernsehens in seinen besten Zeiten. Berühmt war sie auch für ihre grün gefärbten Augenbrauen, die ganz dem Flippigkeitsideal der Jahre entsprachen. Am 15. Juni 2013 erschien ein Interview mit ihr in der Welt, Titel: „Angela Merkel lässt mich ruhig schlafen“. Darin bekannte Marusha sich zu der Politikerin Angela Merkel und begründete ihre Wahl mit der Behauptung, dass Merkel „diszipliniert“, „intelligent“ und „bescheiden“ sei. Auf die Frage, wen sie wählen würde, wenn Merkel in der SPD wäre, antwortete sie: „Dann würde ich SPD wählen.“ Und auf die Nachfrage des Journalisten, ob man in einer Demokratie so persönlich wählen dürfe, erwiderte Marusha: „Wenn es der Gesellschaft dient: ja.“
„Marusha ist unfähig oder unwillig, sich von ihrer Welt zu lösen, der Musikwelt, in der es Stars gibt und Fans“, schreibt Sascha Lobo in einer Schimpftirade auf dieses Marusha-Interview, die kurz darauf in seinem Weblog erschien, „und daher baut sie eine Beziehung zu Angela Merkel auf, die alle Elemente einer Fan-Beziehung aufweist. Marusha ist Merkelfan, sie schaut auf die Politikerin wie ein Teenager auf den Superstar. Alle Handlungen werden ins Positive gedreht, es gibt nichts, was der Star tun könnte, um die Liebe des Fans zu erschüttern. Jeder Hauch einer Kritik wird emotional bis irrational gekontert. Die Fan-Beziehung zu Politikern (außerhalb der Facebook-Bedeutung) aber ist das Gegenteil von einer aufgeklärten Demokratie. Wenn nicht einmal mehr versucht wird, objektiv zu bewerten, ob eine politische Handlung gut oder schlecht ist, dann gibt man – wie Marusha – jede politische Mündigkeit an der Garderobe der selbstverschuldeten geistigen Armut ab.“
Was hier kritisiert wird, ist nichts anderes als der Wirkmechanismus der Medialisierung von Politik: Das Wahrnehmungs- und Beziehungsmuster aus anderen medialen Zusammenhängen (Star-Fan-Beziehung aus der Musikwelt) wird auf die Beziehung zwischen Wähler und Politiker übertragen. In diesem speziellen Fall führt das zu einer vollkommen persönlichen, unkritischen und letztlich auch unpolitischen Bezugnahme auf einen politischen Akteur, wie Lobo analysiert: „Partei egal, also Politik egal, Hauptsache Merkel, eine Argumentationslinie direkt aus dem Gehirn eines 12-jährigen Justin-Bieber-Fans.“
Dabei geht es wohl weniger um Marusha als einzelne Person, sondern die Befürchtung, dass ihr politisches Selbstverständnis das vieler Menschen in Deutschland widerspiegelt. Dieses Selbstverständnis ist nicht das eines kritischen Bürgers, sondern das eines Politikerfans, der sich selbst überhaupt nicht mit politischen Themen auseinandersetzen will und alles Politische daher an den Star-Politiker delegiert, dem er aus reiner persönlicher Sympathie uneingeschränktes, blindes Vertrauen entgegenbringt.
Umgekehrt ist aber auch das Phänomen zu beobachten, dass nicht nur Politiker zu Stars, sondern auch Stars zu Politikern werden. Personen des öffentlichen Lebens nutzen ihre Bekanntheit, um politische Programme durchzusetzen. Aus dem System der Medien wechseln sie in das System der Politik: Dass so etwas funktioniert, ist in Europa ein Novum.
- So gründete in Italien der Komiker Beppe Grillo die Partei Movimento 5 Stelle (deutsch: Fünf-Sterne-Bewegung) und erzielte in den Parlamentswahlen 2013 aus dem Stand 25 Prozent. Wichtigstes Ziel der Bewegung ist das Ende der Korruption und der mafiösen Einflüsse in Italien.
- Die Bayern-SPD hat es schwer. Doch im Wahlkampf gegen die CSU hat sie jetzt einen neuen Hoffnungsträger: Den Stefan aus dem Comedy-Duo „Erkan & Stefan“. Florian Simbeck, wie „Stefan“ mit bürgerlichem Namen heißt, steht als Direktkandidat für den Bundestag im Wahlkreis Pfaffenhofen zur Wahl.
Das eigentlich Demokratische
Andreas Dörner, Professor für Medienwissenschaften an der Universität Marburg (s. Interview S. 19), zählt in einem Vortrag von 2002 einige positive Folgen der Medialisierung der Politik auf: Nachdem Demokratie bedeutet, dass die Mehrheit regiert, kann man den politischen Einfluss der öffentlichen Meinung durch die Medien auch als etwas zutiefst Demokratisches betrachten. Denn den Verkürzungen und Verzerrungen zum Trotz, die damit einhergehen, bietet die unterhaltende Darstellung von Politik in den Medien den Zuschauern/Bürgern auch eine Veranschaulichung und Verlebendigung des Politikbetriebs. Dieser Effekt ist auch mit einer nicht zu unterschätzenden Orientierungsleistung für die Bürger verbunden, die der sogenannten Politikverdrossenheit entgegenwirken kann. Politik wird als etwas Angenehmes dargestellt, mit dem man sich gern beschäftigt. Für Politik einerseits und Medien andererseits entsteht eine Win-Win-Situation: Die Medien gewinnen interessante Inhalte, mit denen sie ihre Quoten steigern können, und Politikern erschließt sich eine Plattform, über die sie neue Wählerschichten erreichen.
Allerdings birgt die Medialisierung der Politik auch strategische Risiken. Die größte Gefahr aus Politikersicht ist dabei sicherlich die „Unterhaltungsfalle“, wie Dörner sie nennt, in die etwa Gerhard Schröder hineingetappt ist, nachdem 1999 die Sachpolitik auf die hollywoodreifen Bilder aus dem Wahlkampf prallte. Schröder reagierte, sagte Medienauftritte ab und bemühte sich um ein seriöses Erscheinungsbild. Schlimmer traf es den einstigen Verteidigungsminister Rudolf Scharping, von dem in der Bunten 2001 die berüchtigten Fotos mit der Geliebten im Swimmingpool erschienen, während Bundeswehrsoldaten im Kosovo im Einsatz waren. Dabei war Scharping kein Opfer von Paparazzis geworden, sondern hatte in die Veröffentlichung eingewilligt. Vor dem Hintergrund des Bundeswehreinsatzes erschien diese Inszenierung seiner Person als zynisch.
Image als Frage der Logik
Systemtheoretiker sprechen von einer „Medialisierung“ der Politik, die ähnlich funktioniert wie „Verrechtlichung“, „Verwissenschaftlichung“ oder „Ökonomisierung“: Die Logik des einen Systems – das System der Medien – greift auf ein anderes System – das System der Politik – über. Bei der Medialisierung greift die Politik auf die Leistungen des Mediensystems zu: die Herstellung von Öffentlichkeit, das Agenda-Setting und die Interpretation von Geschehnissen.
Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass sich die politischen Akteure der Logik der Medien unterwerfen müssen. Wichtig für Politiker wird also, was spektakulär ist und Aufmerksamkeit auf sich zieht – und nicht, was das Land verändert.
Medien und Politik sind zwei verschiedene Teilsysteme der Gesellschaft, die nach unterschiedlichen Logiken funktionieren. Der Fall Scharping zeigt, wie man beides nicht miteinander vermischen sollte. Deutsche Verteidigungsminister sind hier allerdings eine In Zukunft wird es nur noch ein wechselseitiges Sender/Empfänger-Sender/Empfänger-Verhältnis geben besonders gefährdete Spezies, denn die Deutschen sind aus historischen Gründen sensibel im medialen Umgang mit Krieg. Die Public Relations der deutschen Bundeswehr dürfte deshalb einer der schwierigsten Pressejobs der Republik sein: In der Wahrnehmung balancieren die Inhalte immer zwischen moralisch untragbarem Zynismus und totaler Lächerlichkeit. Hohn und Spott wurden, um nur ein Beispiel zu nennen, Ende Juni 2013 auf Spiegel Online über einem Werbevideo der Bundeswehr ausgegossen, in dem die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Bananen zur Aufgabe der Marine erklärt wird.
Vielleicht war der entscheidende Fehler Karl-Theodor zu Guttenbergs also gar nicht die Fälschung seiner Doktorarbeit, sondern die Selbstinszenierung als Privatmann an der Front, als er im Dezember 2010 seine Frau zum Afghanistan-Einsatz mitnahm und diesen Besuch in Fotostrecken aller deutschen Zeitungen und Zeitschriften darstellen ließ. „Wüstentreff mit Guttensteph“, titelte das Satiremagazin Titanic und zitierte in gewohnter Bösartigkeit die Berichterstattung von Bild-Zeitung, Bunter und „In – Das Star- und Stylemagazin“ in einer Realsatire, in der die Kleidung des Ministerpaars im Stil einer Mode-Fotostrecke beschrieben wird. Der schreiende Kontrast zwischen der medialen Logik der Glanz- und Glamour-Klatschmagazine und der Logik eines real stattfindenden Krieges, den die Titanic so auf die Spitze trieb, muss zu Guttenberg damals entgangen sein. Nur war es hier nicht (wie bei Scharping) Chefin Angela Merkel, die seine zynische Selbstinszenierung letztlich abstrafte, sondern ein anonymer Hacker.
Das Ende des Politikers
Das Schicksal von Karl-Theodor zu Guttenberg steht exemplarisch dafür, was passiert, wenn alte politische Erfolgsstrategien an neuen medialen Umweltbedingungen scheitern. Das alte massenmediale Starsystem beherrschte „KT“ aus dem Effeff und übersah dabei, dass die Spielregeln sich geändert hatten: Mit blankpoliertem Image bot Guttenberg den alten Massenmedien genau die Bilder, die sie haben wollten. Seine Präsenz in den Medien war, im Vergleich zu anderen Politikern, überragend; dabei war aber kaum seine politische Arbeit Thema, sondern vor allem seine persönlichen Eigenschaften (Aussehen, Adel, Ehefrau).
Die Politikwissenschaftlerin Petra Hemmelmann untersuchte zu Guttenbergs Medienpräsenz in deutschen Zeitungen zwischen 2008 und 2010 und kam zu dem Schluss, dass in diesem Zeitraum durchschnittlich jede zweite Ausgabe des Spiegel, der SZ, der FAZ, des Focus, der ZEIT und der Bild-Zeitung über den Minister berichtet hatte – überwiegend positiv, überwiegend auf persönlicher Ebene. Vor der Plagiatsaffäre im Jahr 2011 war Karl-Theodor zu Guttenberg zum Liebling der deutschen Massenmedien avanciert. Das ging so weit, dass die FAZ dem Spiegel in Bezug auf den Minister „Hofberichterstattung“ vorwarf. Und der Bild-Zeitung wurde in einer Talkshow im Februar 2011 unterstellt, sie habe Karl-Theodor zu Guttenberg bewusst zum nächsten Kanzler aufbauen wollen.
Zu diesem Zeitpunkt war dieser Star-Politiker alten Stils schon über den Wandel der Medien gestolpert: Am 17. Februar 2011 ging das GuttenPlag-Wiki online, in dem die kollektive User-Intelligenz aus dem Internet Zitate dokumentierte, die ohne Kenntlichmachung in Guttenbergs Dissertation übernommen worden waren. Die Täuschungsabsicht bei der Erstellung seiner Doktorarbeit, die Guttenberg zuvor öffentlich geleugnet hatte, wurde auf diese Weise nachgewiesen. Aufgrund dieser als „Plagiatsaffäre“ bekannt gewordenen Ereignisse trat der Minister am 1. März 2011 zurück. Der Schwarm siegte über den Star.
Der fränkische Adlige hatte folgende Erkenntnis nicht verinnerlicht: Das Internet ist mehr als nur ein neuer Kanal, über den ein Politikerstar seine Pressemitteilungen verbreiten kann. Es war eben nicht bloß zu Bild auch noch Bild.de hinzugekommen. Der Wandel der Medienwelt durch die digitale Revolution ist vielmehr so grundsätzlich, dass Politiker sich jetzt völlig anders durch den öffentlichen Raum bewegen als in den Jahrzehnten zuvor. Denn dieser öffentliche Raum selbst folgt einer neuen Physik. Die Spielregeln der medialen Wirklichkeit werden neu geschrieben; und damit auch die Spielregeln der Mediendemokratie, in der wir leben.
Die für die Politik vielleicht wichtigste neue physikalische Regel, nach der der öffentliche Raum funktioniert, betrifft das lineare Verhältnis Sender–Empfänger. In Zukunft wird es das in dieser Form nicht mehr geben, sondern nur noch als wechselseitiges Sender/Empfänger-Sender/Empfänger-Verhältnis. Beide Seiten haben jetzt beide Rollen, das heißt, der Wähler ist nicht mehr nur Empfänger, sondern auch Sender von Botschaften. Das bedeutet umgekehrt, dass der Politiker sich nicht mehr darauf zurückziehen kann, ein reiner Sender zu sein, sondern auch Empfänger sein muss, wenn er Erfolg haben will.
Die Wähler der Zukunft lesen nicht mehr nur passiv ihre Zeitungsartikel, sondern äußern sich auch aktiv – und, fast noch wichtiger: Sie hören auch die Äußerungen anderer Bürger. Aus der passiven Zuhörermasse der alten Massenmedien wird der „Schwarm“, die fluide, anonyme, unberechenbare, quirlige, aktive Menge der Internet-User. Und das gilt auch für diejenigen, die das Internet gar nicht benutzen, denn die Schwarm-Öffentlichkeit des Internets prägt auch die mediale Wirklichkeit der Zeitungen, Radiosender und Fernsehstationen, die ja nach wie vor Bestand haben und auch in Zukunft haben werden. Alte und neue Medien beeinflussen sich gegenseitig: Über das GuttenPlag-Wiki zum Beispiel, durch das Karl-Theodor zu Guttenberg zum Leaking-Opfer wurde, haben selbstverständlich auch die klassischen Medien berichtet. Und wer weiß, ob nicht die Satire in der Titanic zur Entstehung des GuttenPlag-Wiki beigetragen hat.
Und natürlich bedeutet das auch, dass die Bürger kritischer geworden sind. Zwar ist kein größerer Anteil von ihnen kritisch geworden, aber der Anteil, der sowieso schon kritisch war, hat deutlich mehr Möglichkeiten zur Verfügung. Das blinde Fan-tum, das in dem Marusha-Interview zu beobachten ist (siehe oben), kann auch als verängstigte Reaktion auf die neue Überfülle der Informations- und Handlungsspielräume gedeutet werden, die dem Bürger heute zur Verfügung stehen. Über die alten Demokratie-Tools (wählen gehen, auf der Straße demonstrieren) hinaus können Bürger in Zukunft zum Beispiel zu Hackern oder Leakern werden, um in das politische Geschehen einzugreifen. Doch die neuen Medien lassen sich auch anders nutzen, für richtig gute Politiker-PR zum Beispiel. Der Bamberger Bürgermeister macht es vor:
Bayern ist das einzige deutsche Bundesland, in dem für Asylbewerber das Sachleistungsprinzip gilt. Das heißt, dass sie zur Grundversorgung vorsortierte Essenpakete bekommen, ihre Nahrungsmittel also nicht selbst aussuchen können. Der Arbeitskreis „Freund statt Fremd“ ging im Sommer 2013 mit der öffentlichkeitswirksamen Aktion „Und? Schmeckt’s?“ dagegen auf die Barrikaden. Eine Woche lang ernährten sich lokale Prominente im Selbstversuch von den amtlichen Essenspaketen und berichteten auf dem „Und? Schmeckt’s?“-Blog von ihren Erfahrungen. Auch der Bamberger Oberbürgermeister Andreas Starke machte mit und forderte die Abschaffung des Sachleistungsprinzips in einem offenen Brief an Ministerpräsident Seehofer. Nach Ende des Selbstversuchs stand auf dem Blog zu lesen: „Besonders gefreut hat uns das unheimlich große Medienecho auf unsere Aktion: Sowohl der Bayerische Rundfunk als auch viele deutsche Zeitungen, darunter die Süddeutsche und Focus Online, haben über unsere Aktion berichtet. Zusammen mit der starken Präsenz in sozialen Medien wie Facebook und Youtube wurde damit eine öffentliche Diskussion angeregt, die hoffentlich weit über das Projekt hinausgeht und Verbesserungen an der Situation von Asylsuchenden in Bayern bewirkt.“
Leaking schafft neue Machtverhältnisse
Es ist eine Sache, die sozialen Medien geschickt für die eigene PR zu nutzen. Eine andere ist es, eigentlich geheime Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen. „Leaking“, dieses englische Wort, ist deshalb so wichtig für die Zukunft der Politik, weil es das Machtverhältnis zwischen Politikern und Bürgern verändert. Leak (engl. Leck, undichte Stelle) bezeichnet meist eine nicht-autorisierte Veröffentlichung von Informationen, Daten und Protokollen. Vor allem mit den Enthüllungen der Aktivistengruppe WikiLeaks hielt dieser Begriff Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch. Leaking kann genutzt werden, um Organisationen, Personen des öffentlichen Lebens oder Privatpersonen zu schaden. Allerdings kann es auch ein Mittel zur Informationsfreiheit sein, die eine gesunde Demokratie braucht. So können auch die klassischen Medien erreicht werden, die ihrerseits wieder Druck auf die politischen Entscheidungsträger ausüben können – man denke an das Guardian-Interview von Leaker (oder auch „Whistleblower“) Edward Snowden in Hongkong am 9. Juni 2013.
Der investigative Qualitätsjournalismus signalisiert Leakern nicht nur Sympathie, sondern auch die Bereitschaft, diese neuen Quellen zu nutzen. So hat die Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT im Sommer 2012, also schon ein Jahr vor dem NSA-Skandal, einen „Briefkasten“ eingerichtet. Auf der Homepage heißt es: „Auf dieser Seite können Sie uns anonym Informationen und Dokumente zukommen lassen. Interne Papiere, Verträge, Datenbankauszüge – wenn Sie finden, dass die Öffentlichkeit davon erfahren sollte, können Sie uns diese Dokumente hier übermitteln ... Wir sind allerdings keine Leaks-Plattform, die Informationen automatisch veröffentlicht.“ Dieser Distanzierung zum Trotz bezeichnet der ZEIT-Mitarbeiter und Web-Entwickler Dirk Engling in dem Video auf derselben Website das Übermitteln dieser Dokumente als „Leaken“.
Dem Begriff „Leaking“ haftet, ebenso wie „Hacking“, ein negativer Beigeschmack an. Es klingt eine böse Absicht mit, die nicht unbedingt wirklich gegeben sein muss. Es handelt sich bei beiden Vorgehensweisen (Hacking und Leaking) um Techniken, das heißt, sie selbst haben keinen moralischen Wert. Entscheidend ist, wie sie eingesetzt werden. In Bezug auf Politiker ist eine zerstörerische Absicht allerdings wahrscheinlicher als in Bezug auf andere Personen.
Politiker gehören nicht nur in der öffentlichen Meinung zu den unbeliebtesten Berufsgruppen, sondern haben für gewöhnlich viel Macht und damit automatisch auch viele Feinde. Bei einem Politiker vom Rang eines Ministers oder höher kann man davon ausgehen, dass es stets ausreichend Menschen geben wird, die seine Karriere beenden wollen und deshalb gezielt nach kompromittierenden Informationen suchen.
Die Zukunft der Politik
Aber wie könnte eine Politik aussehen, die sich von einzelnen Politiker-Personen gelöst hat? Ein politisches System, in dem es niemanden mehr gibt, der eine derartig offene Flanke darstellt wie die Person eines einzelnen Politikers? Eine Politik, in der Macht sich nicht mehr auf einzelne Personen konzentriert, sondern auf alle verteilt ist? Eine Politik ohne persönliche Macht? Eine Politik ohne Politiker, in der nicht eine Person, sondern ein „Schwarm“ regiert? Es gibt eine Partei in Deutschland, der es nicht zu peinlich war, diese Fragen in der Öffentlichkeit zu stellen, und das, ohne Antworten zu haben: die Piratenpartei. Im Wahlkampf 2013 traten die Piraten mit fünf inhaltlichen Schwerpunkten an: Transparenz, Bildung, Bürgerrecht, Datenschutz und die „Erneuerung der Demokratie“.
Man Die emanzipatorischen Wünsche der Wähler treiben den Openness-Trend voran mag von der Piratenpartei halten, was man will: Sie als reine „Internetpartei“ abzutun, als fehlgeschlagenes Experiment einzuordnen und zu vergessen wäre nicht nur verkürzt, sondern auch gefährlich. Denn über die klassische „Netzpolitik“ (Datenschutz, Urheberrecht, Informationsfreiheit), also die quasi technischen Fragen hinaus versucht sie, auch den politischen Strukturwandel zu verkörpern, der mit dieser medialen Revolution einhergeht.
Zwar weitgehend ergebnislos, aber immerhin: Sie setzen sich mit der Frage auseinander, was die digitale Revolution mit der Demokratie macht. Und diese Frage ist entscheidend für die Zukunft der Politik überhaupt.
Der kometenhafte Aufstieg der Piratenpartei in Deutschland in den Jahren 2010 und 2011 ist auch ein Anzeichen für einen wichtigen Trend: das Bedürfnis nach Transparenz und das Bedürfnis nach Mitbestimmung. Diese emanzipatorischen Wünsche der Wähler treiben den Openness-Trend voran. In der alten, linearen Sender-Empfänger-Mediendemokratie hatten sie keinen Platz, keine Lobby und keine Partei. Aus der Hacker-Anarchie etwa des Chaos Computer Clubs und des Userkollektivs Anonymous ist die gemäßigte Form eines neuen bürgerlichen Liberalismus hervorgegangen, von der man irrtümlich annahm, sie würde nur im „virtuellen Raum“ des Internets stattfinden. Doch das Internet ist kein virtueller, sondern ein sehr realer Raum, und die Ansprüche, die in diesem Zusammenhang formuliert wurden, manifestieren sich auch in der realen Politik. Dazu kam natürlich der Überraschungseffekt, der sich zugunsten der Piraten auswirkte, der seltsame Name, die neue Sprache und das neue Gebaren. Als Antipartei waren die Piraten angetreten, und das zeigte sich nicht nur an den genannten Oberflächenmerkmalen, sondern auch an ihren Zielen und ihrer Struktur. Die Piraten sind anti, aber anti-was eigentlich? Man könnte sagen, sie sind Anti-Guttenberg. Die Piratenpartei wurde auch deshalb gewählt, weil sie sich das Ende des altmedialen Starpolitikers auf die Fahne geschrieben hat. Dafür sind sie aber auch mit Problemen konfrontiert, die andere Parteien nicht haben.
Erstens war die Piratenpartei innerhalb zu kurzer Zeit zu groß geworden. Gegen Extremisten an ihren Rändern hatte sie noch kein wirksames Gegenmittel entwickelt; überhaupt ist sie wie alle „offenen“ Strukturen extrem anfällig für Missbrauch und parasitäre Vereinnahmungen. Ähnlich wie Anonymous oder die Occupy-Bewegung kann sie sich nur schwer dagegen wehren, wenn jemand in ihrem Namen abweichende Ziele verfolgt und damit die ganze Bewegung in Verruf bringt.
Zweitens ist die Piratenpartei die Verkörperung eines Widerspruchs: Sie ist eine politische Partei, die die Berechtigung politischer Parteien in Frage stellt. Dementsprechend bringt sie ähnlich paradoxe Politikerfiguren hervor: Politiker, die im Grunde gegen Politiker sind.
Neue Medien, neue Spielregeln
Marina Weisband war ein Jahr lang politische Geschäftsführerin der Piratenpartei in Deutschland. Von 2011 bis 2012 war sie in den Medien sehr präsent: Ihrer Parteizugehörigkeit gemäß wurde sie als Anti-Politikerin wahrgenommen. Oberflächlich wurde diese Wahrnehmung durch Weisbands sichere Handhabe sozialer Netzwerke wie Facebook und Twitter und ihre flapsige Sprache ausgelöst. Doch ihr Anti-Politikertum geht tiefer: Im Grunde verkörpert Marina Weisband einen neuen Politikertyp, dem nicht an persönlicher Macht gelegen ist, bzw. der überzeugend so tun kann, als ob. „Und wenn Sie mich jetzt fragen, ob wir im Herbst in den Bundestag gewählt werden oder nicht, sage ich Ihnen: Das ist egal“, sagte sie 2013 im Interview mit dem Zeit-Magazin. Der anfänglich große Erfolg der Piratenpartei ist ein Anzeichen dafür, dass die Wähler in Deutschland sehr empfänglich sind für die Idee einer Politik ohne Macht, für eine anonymere Adhocracy ohne Ideologie und ohne Stars. Nun wurde Weisband dadurch, dass sie diese Idee für viele zu verkörpern begann, selbst zum Star – und trat zurück. Dieser Schritt macht sie als Vertreterin einer neuen politischen Kultur, in der auf persönliche Macht verzichtet wird, in den Augen vieler eher noch glaubwürdiger. Wenn sie zurückkommen sollte, dann mit Macht. Gerade weil sie den Eindruck erweckt, diese Macht nicht zu wollen. Einen derartigen Paradoxie-Spagat kriegt nicht jeder Politiker hin, aber vielleicht ist das auch gar nicht notwendig.
Die Zukunft des Politikers
Vielleicht reicht es, zuzuhören. Die erfolgreichen Politiker der Zukunft haben verstanden, dass jeder Wähler ein Individuum ist. Sie nutzen die Daten, die ihnen zur Verfügung stehen, und die Rückkanäle des Internets, um einen vollständigen Kommunikationsprozess herzustellen, anstatt nur Mitteilungen rauszuschicken von dem, was PR-Strategen und Demoskopen als „die wichtigsten Fragen“ ermittelt haben, um die Altmedien mit den gewünschten Bildern zu füttern. Sie sind keine linearen Sender, die die Empfänger ihrer Botschaften „erreichen“ wollen, sondern hören den Botschaften der Bürger mit technischer Raffinesse zu. Auf dieser Informationsbasis können sie das Gespür für Bedürfnisse, Veränderungen, Trends entwickeln, das ihnen ermöglicht, die Sehnsüchte, Fragen und Probleme der Menschen zu ihrem Die öffentliche Meinung wird nicht mehr von der Politik kontrolliert, sondern die öffentliche Meinung kontrolliert die Politik Programm zu machen. Wie populistisch er dabei werden will, bleibt jedem Politiker wie bisher selbst überlassen. Diskutiert werden könnte in diesem Veränderungsprozess eine alte Forderung: In der Demokratie der Zukunft wird das Volk wieder mehr zu sagen haben. Die öffentliche Meinung wird nicht mehr von der Politik kontrolliert, sondern die öffentliche Meinung kontrolliert die Politik. Das wird die Demokratie demokratischer machen als je zuvor.
Literatur:
Obamas Rezept. In: Süddeutsche Zeitung, 18.1.2013.
A more perfect Union. How President Obama’s campaign used big data to rally individual voters. In: MIT Technology Review, 19.12.2012.
Obamas Rezepte sind schwer zu kopieren. In: Süddeutsche Zeitung, 1.7.2013.
W. Schulz: Politische Kommunikation. Wiesbaden 2011, S. 31-32.
Dörner, Andreas: Politainment versus Mediokratie. Potenziale unterhaltender Kommunikationsformen in der Politik. Thesenvortrag, Cologne Conference/Medienforum NRW, 21. Juni 2002.
Angela Merkel lässt mich ruhig schlafen. In: Die Welt, 15.6.2013.
Marusha, Merkel und das deutsche Problem. Saschalobo. com, 17.6.2013.
Wir. Schützen. Bananen. Spiegel Online, 26.6.2013.
Hemmelmann, Petra: M(iniste)r Perfect? Das Phänomen zu Guttenberg – Personalisierung und Image in der Politikberichterstattung. Eine Inhaltsanalyse der deutschen Printleitmedien. Diplomarbeit, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, November 2010.