Listen als Kuratierungstool des Informationszeitalters: Aus unstrukturierten Daten entstehen die Themen einer automatisierten Medienzukunft - und beantworten ungestellte Fragen
Medientrend Listicles: Halb Liste, halb Artikel
Mal ehrlich: Wollten Sie es nicht schon immer wissen? Wer die 50 schönsten Rapper in Deutschland sind? Welche die 14 besten Pensionen Österreichs und wer die fünf nervigsten Urlaubstypen auf Facebook sind? Antworten auf Fragen, die keiner gestellt hat, sind ein grassierendes Phänomen unserer Zeit. Während man jedoch im hohen gesellschaftlichen Diskurs schnell bei den Reizthemen Big Data, der legalen, grenzwertigen oder illegalen Nutzung von Profil- und Sensordaten landet, gibt es, wie in so vielen Fällen, auch eine lustvoll-spielerische Seite des Themas Datenschwemme.
Immer mehr Anbieter von Information bedienen sich eines uralten, aber extrem wirkungsvollen Instruments der Strukturierung, um sich im medialen Kreuzfeuer zu bewähren: der Liste.
- „9 Dinge, die reiche Leute täglich ganz anders machen“ (Entrepreneur.com)
- „Diese 16 gruseligen Dinge haben Kinder ihren Eltern erzählt“ (Huffington Post)
- „10 Tipps für die Nutzung von Content Marketing SEO“ (deutsche-startups.de)
- „Die schnellsten Serienautos der Welt“ (Mitteldeutsche Zeitung)
- „Diese 30 Menschen unter 30 verändern die Welt“ (Time)
- „11 Vorhersagen aus den ,Simpsons‘ zur Zukunft der Technologie“ (Mashable)
Listen ordnen scheinbar ungeordnete Zusammenhänge und machen Muster in bis dahin unstrukturierten Umfeldern erkennbar. Da unser menschliches Hirn massiv auf die Erkennung solcher Muster ausgerichtet ist, funktionieren Listen medial mit tödlicher Sicherheit, auch wenn sie den größten Unsinn strukturieren.
Pseudokuratierung im Rauschen
Listen zu den „50 mächtigsten Managerinnen der Erde“ (Fortune), zu den „5 Top-Karrieren, die man auch ohne Hochschulabschluss einschlagen kann“ (nämlich Unternehmer, Verkäufer, Designer, Kundenservice und Organisator, workintelligent.ly), über „27 Probleme, die nur Introvertierte verstehen können“ (Buzzfeed) oder den „50 unbeachteten Helden, die man Jahr 2014 beachten sollte“ (mariemejamme.com) reichen von aufschlussreichen Übersichten bis zu persönlichen Meinungen und skurrilen Binsenweisheiten. Allen gemeinsam jedoch ist ein Mechanismus, der zunehmend an Bedeutung gewinnen wird: Listen kuratieren Informationen, indem sie sie vorstrukturieren und ordnen. Auch wenn es sich in so manchem Beispiel wohl eher um Pseudokuratierung handelt – wie man es seit einiger Zeit auch beim beliebten Web-Tool des Ratings feststellen kann.
Und da sich solche Listen, wie man in Definitionen nachlesen kann, manuell (handschriftlich) oder automatisiert (zum Beispiel durch Computerprogramme) erstellen lassen, befinden wir uns mitten in einer der am heißesten diskutierten Zonen der digitalen Wissenswelt. Es geht dabei um die Frage, was die Überflutung der Welt durch eine nicht zu stoppende Menge an rasend wachsenden Informationen im Verhalten der Menschen verändert und um die Frage, wer die Hebel der Kuratierung bedient.
Roboter versus Bio
Im medialen Umfeld wird beispielsweise die Frage relevant, ob künftig überhaupt noch Menschen diese Entscheidungen treffen können oder ob uns nicht Algorithmen die „wichtigsten News“ Die Unübersichtlichkeit ist gigantisch und erzeugt ein planetarisches Info-Rauschen des Tages sortieren und präsentieren werden. Manche Experten gehen davon aus, dass bis 2030 rund 90 Prozent der digitalen Inhalte im Netz von Computern erstellt werden und lösen damit erbitterte Diskussionen über „Roboterjournalismus“ versus „Biojournalismus“ aus. Immer mehr Programme ermitteln medienrelevante Informationen aus dem Strom der digitalen Daten. „Dataminr“ durchforstet Twitter-Feeds in rasender Geschwindigkeit, „Storyful“ ermittelt Relevanz anhand der Verbreitungsgeschwindigkeit, andere Ansätze ziehen Newswerte aus Wikipedia-Einträgen. Alle diese Ansätze agieren auf der unterliegenden Struktur von Information und weniger über die konkrete Story – sie können so unendlich viele neue Strukturierungsoptionen nutzen, die weit über die mittlerweile schon klassische „Meistgelesen-Liste“ hinausgeht.
Denn der digitale Raum ist eine beängstigende Welt und braucht Strukturbildung. Alles geht sehr schnell: Global dominierende Unternehmensgiganten entstehen in wenigen Jahren, weltverändernde Technologien wie das Smartphone durchdringen den globalen Markt in nie dagewesenem Tempo, moderne Events, Kommunikations- und Handelsplattformen erreichen Kundenzahlen, die größer sind als die Weltbevölkerung vor 100 Jahren.
Belastung wird Belästigung
Der wesentlichen Treiber dieser Tempowelt, das Wachstum der Daten und Informationen, ist beängstigend. Immer mehr Informationen sind immer schneller für immer mehr Menschen verfügbar. Alles in der Informationsgesellschaft geht in atemberaubender Geschwindigkeit und Größe vonstatten. Für immer mehr Menschen ist Information längst vom knappen und
begehrten Gut zur Belastung, wenn nicht Belästigung geworden, wie diese Zahlen von der IDC und von Cisco zeigen:
- Die Datenmenge bis 2020 soll sich verzwanzigfachen.
- Bis zum Jahr 2018 geht man davon aus, dass weltweit 10 Milliarden mobile Geräte online sein werden (bis 2020 insgesamt 50 Milliarden mit dem Internet verbundene Geräte), die bis 2017 viermal so viel Datenverkehr erzeugen wie 2012.
- Die globale Absatz von datenintensiven Smartphones wird auf das Jahr 2018 allein auf 1,8 Milliarden Stück veranschlagt.
Kennzeichen der modernen Informationswelt ist zudem, dass immer mehr Information jederzeit und sehr transparent verfügbar ist. Gerade die sozialen Netzwerke, die einen erheblichen Anteil an der Zunahme der Datenmengen haben, leben davon, dass alles sofort geteilt wird und für alle verfügbar ist. Egal, was die Nutzer erleben, denken, erarbeiten: in den Netzwerken zählt nur, was augenblicklich mit anderen geteilt wird. In der Folge führt das zu einer Entwertung sequentieller Abläufe, also von Dingen, die sukzessive erfolgen, womöglich sogar über einen längeren Zeitpunkt verfolgt werden müssen.
In kulturkritischen Kreisen und Medienressorts ist in diesem Zusammenhang viel von einer Art Diktatur der Gegenwart zu lesen. Alles, was passiert, muss jetzt und sofort kommentiert und gesehen werden, was gestern war, ist unwichtig und so weit weg, als wäre es nie geschehen.
Gerade für das klassische Medienverständnis bedeutet das eine große Herausforderung. Die Unübersichtlichkeit ist gigantisch und erzeugt ein Aggregatoren und kuratierende Angebote werden immer bedeutsamer planetarisches Info-Rauschen. Untersuchungen haben gezeigt, dass gerade Zeiten, in denen aus Sicht der Leser „sehr viel und sehr Entscheidendes passiert“, die Online-Medien massiv gestärkt haben. Die Fukushima-Katastrophe und globale Top-Events wie eine Fußball-Weltmeisterschaft treiben den Online-Newsportalen regelmäßig starke Nutzerzuwächse zu, die danach auch nicht wieder von den klassischen, eher sequentiell angelegten Medien zurückgewonnen werden können.
Perfekte Musterbildungstools
Die Datenschwemme fördert das Gefühl der Überforderung, und zugleich entsteht ein neuer Nachrichtenkonsum: Aggregatoren und kuratierende Angebote werden immer bedeutsamer, um den Strom der permanenten Informationen aus der Sicht der Nutzer weiter kontrollierbar zu halten. Listen, gleich wie gehaltvoll oder absurd sie sind, setzen an der evolutionär-physiologischen Komponente an und funktionieren daher als perfekte Musterbildungstools. Das macht sie so wirkungsvoll und populär.