Diese sechs Newcomer der Zukunftsforschung werden die Art verändern, wie wir über die Zukunft nachdenken - und Wirtschaft, Gesellschaft und Politik der nächsten Jahrzehnte prägen.
Quelle: TREND UPDATE 03/2013
Diese sechs Newcomer der Zukunftsforschung werden die Art verändern, wie wir über die Zukunft nachdenken - und Wirtschaft, Gesellschaft und Politik der nächsten Jahrzehnte prägen.
Quelle: TREND UPDATE 03/2013
Diese sechs Newcomer der Zukunftsforschung werden die Art verändern, wie wir über die Zukunft nachdenken - und Wirtschaft, Gesellschaft und Politik der nächsten Jahrzehnte prägen
Hannah Fry hat einen ähnlichen Hintergrund wie Dirk Helbing: Auch sie ist von Haus aus Naturwissenschaftlerin, begann aber irgendwann, sich für die „Berechenbarkeit“ sozialer Prozesse zu interessieren. Diese Anwendung mathematischer Methoden auf gesellschaftliche Fragestellungen hat in den letzten Jahren im angelsächsischen Sprachraum unter dem Stichwort „Complexity Science“ Furore gemacht. In ihrem TED-Vortrag von 2012 erklärt Hannah Fry ihr Fachgebiet: Noch zu Zeiten Einsteins ließen sich nur Systeme mit besonders wenigen Akteuren (z.B. das aus wenigen Planeten bestehende Sonnensystem) oder besonders vielen Akteuren (z.B. aus vielen Molekülen bestehende Wolken) erforschen. Doch Fortschritte in der Theorie zusammen mit der Rechenpower von Computern ermöglichen es Wissenschaftlern jetzt auch, Systeme mit „mittelvielen“ Akteuren (z.B. große Gruppen von Menschen) zu untersuchen.
Die Mathematikerin stammt aus England und erforschte die Muster in der Aktivität von Plünderern und Polizisten während der „London Riots“ im Jahr 2011. Die räumlichen Interaktionsmodelle, die sie dabei erstellte, sollen helfen, bessere Strategien für die Polizei zu entwickeln und damit große Schäden in der Zukunft zu vermeiden. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über Flüssigkeitsdynamik.
Der schwäbische Professor weiß, dass es ohne Modelle, also Abstraktionen der Welt, keine Vorhersagen geben kann – und dass die Modelle, die Zukunftsforschern üblicherweise zur Verfügung stehen, allesamt zu klein sind. Die Lösung? Helbing möchte die ganze Welt in einer Simulation abbilden. Jawohl, die ganze. Im Rahmen des FutureICT-Projekts an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich will Helbing einen Supercomputer bauen. Dieser „Living Earth Simulator“ soll mithilfe eines gigantischen Datensatzes komplexe soziale und ökonomische Prozesse auf der Welt darstellen, um Krisen besser vorhersagen zu können. Endziel des Projektes ist es, solche komplexen, globalen und sozial interaktiven Systeme besser zu verstehen und zu managen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Nachhaltigkeit und Resilienz, die durch die interdisziplinäre Arbeit von Sozialwissenschaften und Informatik erreicht werden sollen.
Helbing, der Physiker, begründet sein Vorhaben damit, dass die Naturgesetze unserer Welt besser erforscht seien als gesellschaftliche Prozesse, und hoffte auf eine Förderung durch die Europäische Kommission im Umfang von einer Milliarde Euro. Am 24. Januar 2013 platzte der Traum jedoch: Die Kommission entschied sich, stattdessen zwei andere Projekte zu fördern. Doch damit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen; schließlich gibt es noch andere Fördertöpfe in unserer großen, komplizierten Welt.
90 Prozent seiner Vorhersagen sind korrekt - zu diesem Schluss kam jedenfalls die CIA, als sie Bruce Bueno de Mesquitas Prognosen evaluierte. Der Spieltheoretiker mit dem langen Namen und dem doppelten Doktortitel sah historische Ereignisse, etwa die Entwicklung der Nahostkrisen oder das Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen, richtig voraus, indem er die beteiligten Akteure, ihren Einfluss und ihre Interessen analysierte und verschiedene Optionen in Bezug auf die wahrscheinlichste Allianz durchrechnete. In der Politik ist er seither gefragt: 2007 veröffentlichte er einen politischen Strategie-Almanach zusammen mit der damaligen US-Außenministerin Condoleezza Rice. 2009 folgte „The Predictioneer’s Game“, das Buch, in dem er seine Methode als eine Mischung aus Vorhersage (Prediction) und Gestalten (Engineering) darstellte.
Mit seiner Predictioneering-Methode lag Bruce Bueno de Mesquita, wie jeder seriöse Zukunftsforscher, natürlich auch schon daneben: Er sagte voraus, dass Bill Clinton als US-Präsident 1994 seine Gesundheitsreform durch den Kongress bekommen würde, doch ein wichtiger demokratischer Abgeordneter geriet unerwartet unter Korruptionsverdacht. Der Ausfall von Schlüsselpersonen ist seitdem als Variable Bestandteil seines Modells. Aus dieser Geschichte lassen sich zwei wichtige Erkenntnisse über Zukunftsforschung ableiten: Fehler sind dazu da, um aus ihnen zu lernen. Und: Nur Scharlatane irren sich nie.
„Was können wir wissen?“ lautet die Frage, die diese Philosophin am stärksten umtreibt. Sandra Mitchell hat sich im Laufe ihrer akademischen Karriere besonders mit Wissenschafts- und Erkenntnistheorie beschäftigt. Ihre Arbeit auf diesem Gebiet führte die US-Amerikanerin auch immer wieder nach Deutschland, zuletzt 2004 an das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Mitchell vertritt einen „integrativen Pluralismus“ in der Wissenschaft, eine Gegenposition zu dem in der akademischen Welt leider weit verbreiteten „Fachidiotentum“. Um komplexe Systeme zu erklären, kann sich die Wissenschaft ihrer Ansicht nach nicht auf eine Disziplin beschränken, sondern muss die verschiedenen Erklärungsebenen unter pragmatischen Gesichtspunkten zu einer „holistischen Systemwissenschaft“ integrieren. Sozialwissenschaften und Biologie sind die Gebiete, auf denen ihre erkenntnistheoretische Position bisher die meiste Anwendung fand.
Was das für die Zukunftsforschung bedeutet? Wir können viel mehr über die Zukunft wissen, als wir glauben – wenn wir das Wissen, das wir schon haben, richtig benutzen. „Komplexitäten: Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen“ heißt das Buch, das Sandra Mitchell 2008 veröffentlichte und das die Hoffnung weckt auf ein neues Denken, das kleinliche Fächergrenzen hinter sich gelassen hat.
Nate Silver ist 35 Jahre alt und hat schon eine interessante Laufbahn hinter sich. Nach seinem Abschluss an der University of Chicago wurde er Wirtschaftsberater bei KPMG, machte sich nach drei Jahren jedoch selbstständig – als Sportwetten-Guru. Für die Organisation „Baseball Prospectus“ sagte er die Ergebnisse von Baseballspielen voraus. Die entsprechenden Methoden scheinen ihn dabei aber mehr interessiert zu haben als das Spiel an sich: Der selbst ernannte „Stat Geek“ entwickelte eine eigene Methode zur Datenauswertung, die er PECOTA nannte. Der Sport mit seinen gewaltigen Datenmassen war die ideale Schule für Silver, der sich bald der Politik zuwandte und für die Präsidentschaftswahl 2008 in 49 von 50 US-Bundesstaaten das Wahlergebnis korrekt vorhersah.
Den endgültigen Durchbruch hatte er vier Jahre später, mit 50 von 50 richtig vorhergesagten Wahlergebnissen. Im selben Jahr erschien auch sein Buch, „The Signal and the Noise“, in dem es neben Politik und Baseball auch um Schach und die Verbreitung von Krankheiten geht. Kurzfristige Prognosen sind in fast allen Bereichen möglich, so seine Botschaft, wenn man genügend Daten und die richtige Methode hat. Und seine Methode ist klar: Statistische Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Basis der Bayes-Probabilistik. Nate Silver wurde vom Time Magazine zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt gewählt.
Der gebürtige Libanese verbreitet in der Zukunftsforschung Angst und Schrecken. Denn er hat sich ausgerechnet dem größten Feind des Zukunftsforschers verschrieben: dem Zufall. „Fooled by Randomness“ heißt sein Buch, das 2001 erschien. Sein neuestes Werk trägt den Titel „Antifragile: Things That Gain from Disorder“ (2012). Immer wieder macht Taleb deutlich, dass wir uns mit den Mitteln der Wissenschaft nie völlig gegen Zufälle absichern können – und dass es auch unklug ist, das zu versuchen. Sein Ziel ist es, wissenschaftliche Theorien zu widerlegen, die Prognosen für die Zukunft aus den Datenreihen der Vergangenheit ziehen möchten. Stattdessen vertritt er eine Anti-Theorie, eine Philosophie des Zufalls, und stellt sich damit gegen die „Weltberechner“ unter den Zukunftsforschern.
Taleb ist mit seiner Herangehensweise sehr erfolgreich. Nach seiner Promotion an der Universität Paris arbeitete er als Börsenhändler, sah 2007 tatsächlich die kommende Finanzkrise voraus und machte ein Vermögen. Dass Taleb dem Unberechenbaren einen Platz in der Welt einräumen will und damit Erfolg hat, ist eine gesunde Provokation für alle, die Zukunftsforschung aus Angst und Kontrollzwang heraus betreiben. Denn bei all den gewaltigen Fortschritten, die in den letzten Jahren etwa im Bereich der Complexity Science gemacht wurden, bleibt die Zukunft doch immer ein Rätsel.