Nothenticity: Die Authentizität der Zukunft

In Zukunft werden wir nicht mehr versuchen, „wir selbst“ zu sein. Stattdessen werden wir lernen, unsere verschiedenen Identitäten souverän zu managen.

“Sei ganz du selbst!“ Dieser kategorische Imperativ erweist sich in einer digitalen Lebenswelt und einer Arbeitskultur, die von IT-Startups des Silicon Valley geprägt wurden, als zunehmend unrealistisch. In Zukunft ist Nothenticity gefragt: Das souveräne Management verschiedener Identitäten – ohne Anspruch auf „Authentizität“.

Zu den Anfängen des kommerziellen Internets in den 1990er-Jahren empfanden es seine Nutzer als große Spielwiese, auf der alles möglich und vieles erlaubt ist. Weltberühmt wurde der Cartoon „On the Internet, nobody knows you‘re a dog“ von Peter Steiner, der 1993 im New Yorker erschien. Keiner weiß, wer hinter dem Screen sitzt, ob ein Mensch oder vielleicht sogar ein Hund. Diese cyberutopistische Vorstellung, in der digitalen Welt nicht mehr authentisch sein zu müssen, wird in zahlreichen Online-Games ausgelebt. Die Hoffnungen waren groß, den eigenen virtuellen Charakter komplett vom realen Alltags-Ich mit all seinen Lasten wie Geschlecht, Alter, Hautfarbe etc. abzukoppeln. Letztendlich war die Vision, online frei zu sein von allen gesellschaftlichen Zwängen und Rollen – und somit erst wirklich authentisch sein zu können.

Die vielfältigen Bedeutungen von Authentizität im Internet

Doch wenn jeder sein kann, wer er will, weiß keiner mehr, wer der andere ist. Das sorgte nicht selten für Frustration. Die Pseudonymität öffnete die Türen weit für pöbelnde Trolle und Fake-Identitäten. Kaum verwunderlich, dass um die Jahrtausendwende Online-Dienste auftauchten, die auf ein authentisches Auftreten im Internet bestanden.

Eines von ihnen ist das Social Network Facebook. „Having two identities is a lack of integrity“ wird der Gründer Mark Zuckerberg in seiner Biografie „The Facebook Effect“ zitiert. Also wer nicht derselbe im Netz sein kann oder will, wie in der realen Welt, ist nicht ganz normal und auf jeden Fall verdächtig. Authentizität wird auch im Internet zum Credo. Der Hauptgrund hierfür ist kein moralischer, sondern ein wirtschaftlicher: das Bedürfnis von Unternehmen, über Nutzerdaten im Netz Rückschlüsse Nur wer sich frei fühlt, kann authentisch sein auf die reale Person schließen zu können. Denn Daten sind die neue Währung. Doch nur wer Daten einer echten, authentischen Person besitzt, kann von diesen profitieren.

Dass wir an einem Wendepunkt der technologischen, datengetriebenen Sichtweise von Authentizität stehen, zeigen nicht nur Horrorszenarien von Totalüberwachung oder Google als Weltherrscher. Selbst Mark Zuckerberg sprach in einem Interview von einer Bürde, im Netz immer alles unter seinem echten Namen tun zu müssen.

Nothenticity beschreibt genau diese Abwehrhaltung. In Zeiten, in denen Tracking an der Tagesordnung ist und ohnehin jeder nachvollziehen kann, wer ich bin und was ich tue, wird der Wunsch nach Räumen laut, in denen sich das Individuum entspannen kann und sich nicht so verhalten muss, als würde es permanent unter Beobachtung stehen. Diese Räume entsprechen der Privatsphärenidee der eigenen vier Wände: Dort kann ich mich im Jogginganzug ungeschminkt und mit zerzaustem Haar auf die Couch fläzen.

Immer mehr Dienste tauchen auf, die ein anonymes Surfen und Kommunizieren erlauben und sich gezielt gegen die Datensammler richten. Mit der App Yik Yak können anonyme Nachrichten verbreitet werden, die nur im näheren Umkreis sichtbar sind. Der wohl bekannteste verschlüsselte Chat-Dienst Threema hat inzwischen viel Konkurrenz bekommen. Andere Services wie Silence Circle versprechen gar ein komplett verschlüsseltes mobiles Kommunikationsnetz. Initiativen wie „Free your Data“ fordern ein EU-Gesetz, dass Unternehmen mit mehr als einer Million Nutzer zwingen soll, jeder Person auf Anfrage alle Daten zur Verfügung zu stellen, die mit dem Nutzer in Verbindung stehen – und dies kostenlos, ohne Verzögerung und in maschinenlesbarer Form. Somit sollen Menschen wieder Herr über ihre Daten werden und ein Stück weit Freiheit im Netz zurückgewinnen. Denn nur wer sich frei fühlt, kann authentisch sein.

Wie Beruf und Leben verschmelzen

Auf den Tech-Konferenzen im Silicon Valley trat in den Jahren 2011 und 2012 immer wieder eine nett aussehende junge Dame namens Shirley Hornstein in Erscheinung. Ihr Namensschild besagte, dass sie bei der Risikokapitalfirma Founders Fund tätig sei, die von Branchengrößen wie Peter Thiel geleitet wird und von San Francisco aus in viel versprechende IT-Startups investiert. Hornstein schien bestens vernetzt in der Szene und knüpfte ständig neue Kontakte, mit denen sie sich auch privat über Social Networks austauschte. Ihr Profil auf Instagram war voller Selfies: Hornstein mit Berühmtheiten, Hornstein mit Stars aus dem Silicon Valley, Hornstein mit Justin Timberlake. Das Forbes-Magazin veröffentlichte eine Liste, in der sie als eine der Top-Investorinnen der Tech-Szene aufgeführt wurde.

Doch es war alles gelogen. Im Dezember 2011 reichte Founders Fund eine Beschwerde ein: Shirley Hornstein hätte nie für sie gearbeitet und müsse aufhören, das öffentlich zu behaupten. Und das Foto mit Justin Timberlake? Gefälscht, „gephotoshoppt“, wie man heute sagt. Im August 2012 erschien ein sorgfältig recherchierter Artikel auf der Nachrichtenseite TechCrunch, der Frau Hornsteins Lügen Work-Life-Blending kann pathologisch werden einzeln aufdeckte, eine nach der anderen. Shirley Hornstein hatte eine komplette Identität vollkommen frei erfunden – und war damit eine Zeitlang auch extrem erfolgreich gewesen.

„How Shirley fooled the Valley“, „Wie Shirley das ganze Silicon Valley an der Nase herumführte“, so lautet die Überschrift des Artikels. In die allgemeine Empörung über die dreiste Lügnerin mischte sich von Anfang an immer auch ein Unterton von Bewunderung. Es ist in diesem Fall auch zu einfach, sich aus sicherem Abstand moralisch überlegen zu fühlen. Denn in Bezug aufs Berufsleben muss sich jeder fragen: Sind wir nicht alle ein bisschen Shirley? Ein Name-Dropping hier, eine Übertreibung da – gerade in einem Umfeld, das als Business-Netzwerk fungieren soll, ist die eine oder andere „white lie“ schnell passiert.

Paradoxerweise wird aktuell aber gerade im beruflichen Kontext Authentizität sehr hoch gehandelt, verbunden mit dem Megatrend New Work. Arbeit soll eine „Leidenschaft“ sein, eine Tätigkeit, die man „lieben“ muss. Man muss nur einen Schritt aus der White-Collar-Welt der Kreativarbeiter hinaus tun, um den Unsinn dieser Forderung zu erkennen: Welcher Fabrikarbeiter, welche Putzfrau „liebt“ denn ihre Arbeit? Welcher Müllmann geht denn ganz und gar in seiner Tätigkeit auf? Ist das wirklich notwendig, um eine gute Putzfrau, ein guter Fabrikarbeiter und ein guter Müllmann zu sein? Müssen diese Leute sich jetzt als Versager fühlen, weil sie ihre Arbeit nicht „lieben“?

Arbeit bedeutet für die allermeisten Menschen, für Geld Dinge zu tun, auf die man keine Lust hat. Wären sie auf der Arbeit „ganz sie selbst“, würden sie hinschmeißen und nach Hause gehen. Die Forderung nach Authentizität in der Arbeitswelt wird deshalb eher im Zusammenhang mit Schreibtischjobs und, vor allem, den anspruchsvollen Tätigkeiten der Wissens- und Kreativarbeiter laut. Auch die Leadership-Kultur ist betroffen: Besonders in Führungspositionen sollen Menschen im Beruf „ganz sie selbst“ sein. Was das, konsequent zu Ende gedacht, wirklich bedeuten würde, kann man in einer der zahlreichen Komödien (wie etwa „Der Dummschwätzer“ mit Jim Carrey) sehen, in denen der Protagonist plötzlich nicht mehr lügen kann und immer die Wahrheit sagen muss: Die Katastrophe ist vorprogrammiert. Authentizität im Job bleibt ein Lippenbekenntnis, oder es wird auf die Minimalanforderung beschränkt: Nicht direkt zu lügen oder sich zu verstellen.

Der Mediziner und Psychotherapeut Bernd Sprenger berät Menschen, die unter beruflicher Überlastung leiden. Er ist überzeugt: „Selbstverleugnung funktioniert nicht.“ Sich im Beruf völlig zu verbiegen ist also nicht gesund. Genau so wenig gesund ist es allerdings, alles von sich preiszugeben in einem Umfeld, in dem auch mal die Ellenbogen ausgefahren werden und Schwächen durchaus taktisch von Gegnern ausgenutzt werden können. Und so ein Umfeld ist der Beruf normalerweise. Sprenger rät seinen Patienten also zu „selektiver Authentizität“: Nicht lügen, aber trotzdem die innersten Überzeugungen und Gefühle schützen. Man muss im Job nicht alles erzählen.

Identity Management setzt neue Grenzen

Dass es sich dabei um eine Gratwanderung handelt, ist klar, und selbst Vollprofis kriegen das nicht immer perfekt hin. Noch gefährlicher wird diese Gratwanderung allerdings in einer Arbeitskultur, in der man Turnschuhe und Kapuzenpullis trägt und mit seinen besten Kumpels ein Startup gründet. Eine Arbeitskultur wie im Silicon Valley, wo zwischen privater und beruflicher Sphäre nicht mehr unterschieden wird und Business-Kontakte selbstverständlich auf Facebook als „Freunde“ hinzugefügt werden.

Wenn das Work-Life-Blending für den Einzelnen keine Unterscheidung zwischen beruflicher und privater Rolle mehr zulässt, kommt es, wie im Falle der „talentierten Ms. Hornstein“, zu Pathologien. Und jetzt, da IT-Startups wie Google und Facebook erwachsen geworden sind und als „Freak Companies“ die Welt beherrschen, ändert sich auch die Arbeitskultur. In den nächsten Jahren wird der Kapuzenpulli das werden, was früher der Anzug war. In der Konsequenz wird die Arbeitskultur der 1950er- und 1960er-Jahre mit ihren streng getrennten Arbeits- und Lebenswelten erst als Vintage-Ästhetik im Interior-Design wieder sexy, bevor sie sich in der Praxis durchsetzen wird. Dann sind diejenigen die Rebellen, die in Nadelstreifen ins Büro gehen, sich weigern, am Karaoke-Abend mit Kollegen teilzunehmen und die Freundschaftsanfrage des Chefs auf Facebook ablehnen. Individueller und sanfter als in den 1950er-Jahren, aber mit Bestimmtheit, werden wir die verschwommen Sphären unserer multiplen Authentizitäten wieder trennen lernen.

Anstelle des kategorischen Imperativs „Sei ganz du selbst!“ wird das Identity Management als Kulturtechnik treten. Die Zukunft gehört der souveränen Selbstbestimmung über mehrere Authentizitäten, die gleichberechtigt nebeneinander stehen dürfen und sollen. Das Internet hat das „real life“ verändert und die Arbeitskultur revolutioniert, und die ständige Forderung nach der einen, echten Authentizität ist eine Reaktion auf diese verwirrenden Verhältnisse, die Klarheit schaffen soll. Doch sie ist eine Überforderung, weil es die eine, echte Authentizität nicht gibt. Erhöhter Komplexität kann man auf Dauer nur begegnen, indem Kulturtechniken verfeinert werden – und genau das wird in Zukunft geschehen. Identity Management ist also mehr als nur „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“: Es ist das, was entstehen kann, wenn das Individuum einer übergriffigen Arbeitswelt und einem übergriffigen Internet mit neuem Selbstbewusstsein gegenübertritt – und Grenzen setzt.

Die Zukunft der Authentizität

Das bedeutet nicht das Ende der Authentizität. Identity Management bedeutet vielmehr, dass der Einzelne seine Authentizität kontrolliert und nicht umgekehrt. Wie viel jeder in welcher Situation von sich preisgibt, entscheidet er selbst. Und weil es viel zu kompliziert wäre, diese Entscheidungen von Fall zu Fall zu treffen, entwickelt der Einzelne je nach Sphäre verschiedene Rollen. Bereits als Kinder lernen wir, dass wir je nach Kontext uns dem Gegenüber anders präsentieren, seien es Eltern, Geschwister, Lehrer, Schulfreunde oder Sportkameraden. Als Erwachsene werden wir jedoch derzeit dazu angehalten, in all jenen Kontexten immer „man selbst“ zu sein. Eine Farce, denn eigentlich besteht das Selbst aus diversen Ich-Zuständen, die bereits in frühster Kindheit ausgebildet und im weiteren Leben erweitert werden.

In der Psychologie setzen Authentisches Ich-Verhalten ist immer eine innere Verhandlungssache sich in letzter Zeit immer mehr Theorien durch, die davon ausgehen, dass wir aus Teilpersönlichkeiten bestehen, die unterschiedliche Aspekte aufweisen. Unser Selbst besteht demnach aus einer Vielfalt von Authentizitäten, die ganz unterschiedlich sein und auftreten können. Mit Multioptionalitäten wachsen jedoch die Facetten eines jeden. Die Psychologie hat früh erkannt: Statt eines geschlossenen Ichs entspricht ein mehrdimensionales Selbst eher der inneren Wirklichkeit eines Menschen.

Ein erstrebtes Ziel eines ganzheitlichen Ichs, das in sich immer stimmig ist, ist Theoretikern wie Eric Berne oder auch Friedemann Schulz von Thun zu Folge eine Illusion. Sie gehen von Ich-Zuständen und einem inneren Team aus. Während dort vor allem Anteile, wie der Perfektionist, der Antreiber, der Optimistische, der Clown, der Helfer, das Kind, die Mutter, der Vater usw. Platz haben, lässt sich das Ganze auch auf die Alltagsrollen ausweiten.

Die Forderung der Gesellschaft nach „einer“ Authentizität ist demnach ein unlösbare Aufgabe, die entweder eine Abspaltung von Ich-Zuständen impliziert oder eine entgrenzte Agitation mit sich bringt. In jedem Fall entspricht sie nicht dem „authentischen“ Gefühl eines Ist-Zustands.

Anzustreben wäre eine Akzeptanz unterschiedlicher Authentizitäten und die Integration mächtiger Teil-Aspekte, wie sie in der Verhaltenstherapie auch schon gezielt trainiert werden. Authentisches Ich-Verhalten ist somit immer eine innere Verhandlungssache, abhängig vom äußeren Kontext und in jedem Fall keine in sich konsequente Angelegenheit, sondern hochgradig vom Augenblick abhängig. Auch in der Wahrnehmung der Gegenwart. Und die dauert bekanntlich ja nur drei Sekunden.

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Die studierte Kulturanthropologin ist seit 2008 Redakteurin des Zukunftsinstituts. Ihr Fokus: die Zukunft des Handels, Digitalisierungstrends und Global Sustainability. Als Projektleiterin verantwortet Seitz die inhaltliche Koordination der Branchen-Reports.

Anja Kirig

Aus Perspektive der Megatrends erläutert Expertin und Keynote Speaker Anja Kirig die gesellschaftlichen Entwicklungen, insbesondere für Sport und Tourismus.