Peak Time: Fortschritt ohne Wachstum?

What goes up, must come down? Ein neues Denkmodell zum Thema Rückgang lenkt den Blick auf nicht-lineare historische Entwicklungen – jenseits des Untergangs-Paradigmas.

Von Matthias Horx und Holm Friebe (09/2015)

Flickr / M M / Vietnam / CC-BY-SA 2.0

Die „große Erzählung“ des Abendlandes ist das Ausscheren aus der zyklischen Zeit der Naturvölker. Der neue Weg war ein kontinuierlicher Wachstumspfad namens Fortschritt: Wir machen uns die Erde untertan! Morgen muss nicht wie heute sein! Unsere Kinder sollen es mal besser haben! 

Der Fortschrittsgedanke ist die Triebfeder hinter wissenschaftlich-technologischen Durchbrüchen und kapitalistischen Innovationen: Es ist der Quellcode des Kapitalismus. Die Logik der Kapitalverzinsung beruht auf dem Gedanken, dass Ressourcen heute, schlau eingesetzt, ein Mehr an Ressourcen morgen bedeuten. Allerdings gerät diese gut geölte Maschine, die uns jahrhundertelanges Wachstum beschert hat, dort ins Stocken, wo sie – real oder gefühlt – mit der Begrenztheit natürlicher Ressourcen in Konflikt gerät. Das Mantra der Wirtschaftspolitik, „Wachstum schafft Wohlstand“, wird zunehmend in Zweifel gezogen – und damit auch der Kult ums BIP.

Immer mehr Menschen sind überzeugt, dass „immer mehr“ nicht gleichbedeutend mit „immer besser“ ist und dass das kapitalistische System in eine Sättigungszone eingefahren ist. Wie geht es danach weiter? Können wir aus der Wachstumsideologie aussteigen? Kann es Fortschritt ohne Wirtschaftswachstum geben? Oder geht’s von nun an bergab? Das sind die Fragen, die unser „Peak Age“ aufwirft und die heute schon den Diskurs zu beherrschen beginnen. Für eine Antwort gilt es zu bedenken: Es handelt sich um ein Gemenge wohlbegründeter Wachstumsskepsis, wirkmächtiger Realitätsfiktionen und zyklisch wiederkehrender Kurzschlüsse des Denkens. Die Zukunft war immer schon nicht einfach eine „Vergangenheit in Grün“.

Leben in der Gipfelzeit

„Wir leiden unter einer Welle des ökonomischen Pessimismus. Überall hört man Leute sagen, dass die Epoche des enormen Wirtschaftswachstums, das die Vergangenheit prägte, zu Ende ist. Dass sich die schnelle Verbesserung des Lebensstandards jetzt verlangsamt – und dass ein Niedergang des Wohlstands wahrscheinlicher ist denn je!“ Diese Zeilen stammen nicht etwa aus einem Manuskript des Bundespräsidenten oder eines aktuellen Wirtschaftsweisen. Die Rede wurde im Jahr 1928 gehalten, zu Beginn der Weltwirtschaftskrise. Die Worte stammen von John Maynard Keynes, dem Vater des „Keynesianismus“, der staatlichen Interventionspolitik, dessen Konzepte derzeit (nach einer Zeit der Marktradikalität) eine Renaissance erleben. Keynes sprach zu Studenten, der Titel seiner Rede lautete – durchaus der Zukunft zugewandt – „Economic Possibilities for our Grandchildren“. 

Viele Epochen haben sich vorgestellt, in einer „Gipfelzeit“ zu leben. Eine historische Entwicklung ist endgültig an einem Zenit angekommen. Wir stehen am Scheitelpunkt der Geschichte! Und schauen schwindelnd in den Abgrund. Bergab! Zwangsläufig, unwiederbringlich, katastrophal! Wir kennen den Diskurs, tagein, tagaus verbreitet von Medien, Experten, Apokalyptikern, Lobbyisten der Krise. Wir alle glauben es – oder sind schwer in Versuchung, es zu glauben. Überall sehen wir die „Zeichen“: Alterung, Wirtschaftskrisen, Rohstoffknappheiten, Werteverfall... Peak Thinking ist pervasiv und verführerisch.

Peak Oil

Der „Peak“-Begriff – und damit das Bewusstsein, dass wir auf einem sinkenden Schiff, einer schmelzenden Eisscholle, einem schwindenden Ressourcenvorrat leben – entstand im Kontext fossiler Energien und ist seither unauflöslich damit verknüpft. Schon 1957 sagte ein Geologe namens M. King Hubbert „Peak Oil“, den Klimax der Ölförderung, für die USA zwischen 1960 und 1970 voraus. Seither wurde die Prognose, bezogen auf das weltweite Fördervolumen, zigfach modifiziert, angepasst und erneuert – wie das Datum für den Weltuntergang. Damit verbunden ist bis heute die Prognose atemberaubend steigender Sprit- und Ölpreise, was die Weltwirtschaft lahmlegen und insbesondere den Boom der ressourcenhungrigen Schwellenländer abwürgen würde. Nichts davon ist bisher eingetreten. Zwar sind die Benzinpreise an den Tankstellen über lange Zeit angestiegen, bislang aber ohne apokalyptische Auswirkungen.

Ohne Zweifel sind Öl und seine Derivate der Treibstoff des gewaltigen Weltwirtschaftsbooms der vergangenen Jahrzehnte. Fossile Brennstoffe sind enorm kraftvolle Energieträger und trieben industrielle Maschine in nie gekannter Effektivität. Auch wenn die Fördermenge fossiler Brennstoffe kontinuierlich gestiegen ist und immer noch neue Vorkommen entdeckt werden, liegt auf der Hand, dass bei einer endlichen natürlichen Ressource irgendwann der Gipfel erreicht sein wird und die Reserven zur Neige gehen. Ist es da nicht logisch, dass „Peak Oil“ eine Zivilisationskrise ungeahnten Ausmaßes ankündigt?

In seiner großen Studie „The Collapse of Complex Societies“, die in den 90er-Jahren erschien, arbeitet der Anthropologe Joseph A. Tainter die Bedeutung des Faktors Energie für Aufstieg und Fall komplexer Zivilisationen heraus. Humane Gesellschaften sind, so Tainter, in ihrem Wesen „problemlösende Organisationen“:

  • 1. Komplexe Zivilisationen benötigen Energie für ihre Selbsterhaltung, ihre „Wartung“ und Weiterentwicklung.
  • 2. Die gesteigerte Komplexität einer Gesellschaft erfordert stets höhere „Selbsterhaltungskosten“, der Energieaufwand steigt exponentiell.
  • 3. Investitionen in soziopolitische Komplexität erreichen irgendwann den Punkt sinkender Grenzerträge. Damit ist eine eskalierende Krise und schließlich ein Zerfall unvermeidbar.

So basierte etwa das Römische Reich in seinem ökonomischen Kern auf zentralisierter Kommando-Landwirtschaft („große agrarische Bürokratien“ nennt das der Historiker John Darwin). Energie bedeutet hier: Sklavenarbeit. Doch durch die Expansion wurden die Wege, auf denen Sklaven, Rohstoffe und Nahrung transportiert werden mussten, immer länger. Die Verwaltungskosten (und damit die politischen Intrigen) stiegen unaufhörlich. Die Kosten für den Bau und Erhalt der Straßen ruinierten schließlich die römische Ökonomie. Es war enorm teuer, Güter über weite Strecken zu transportieren, und neue Technologien, um das effektiver zu lösen, waren nicht in Sicht. Ebenso wenig wie sozioökonomische Systeme jenseits der Sklavenwirtschaft.

Man kann Tainters Ansatz aber auch andersherum erzählen: Dauerhaft verfügbare Energieressourcen bremsen die Innovation. Und Innovationen können über Energiekrisen nicht nur hinweghelfen, sie können eine ganz andere Zukunft schaffen: 1.400 Jahre nach dem Fall des Römischen Reiches wurde in Amerika nach einem Bürgerkrieg die Sklaverei abgeschafft. Gerade das machte Amerika zur dynamischsten Volkswirtschaft der Welt und langfristig zu einem Imperium – denn nun musste der neue Kapitalismus auf neue Technologien setzen, statt auf billige Arbeitskraft, auf Innovationen statt Gewalt, auf Demokratie statt zentralistische Planung. Öl spielte dabei die zentrale Rolle, aber eben nur, weil die alte Energieressource, die Sklaverei, „in die Krise geriet“. Der entscheidende Punkt für den Erfolg Amerikas waren deshalb Managementtechniken – Soziotechniken der Innovation.

In komplexen Gesellschaften können Energiesysteme also auch durch komplexe Innovationen abgelöst werden. Und genau das kann durch die Knappheit des Öls entstehen: ein echter Innovationsdruck, der die „bequemen“ fossilen Verbrennungstechniken endlich (im Sinne der CO2-Krise) abschafft.

Sind wir heute tatsächlich bei „Peak Oil“ angelangt, also dem Höhepunkt der Ölversorgung? Darüber gibt es unendliche, widerstreitende Studien. Die USA, das „Kernland“ der Ölindustrie, mobilisiert derzeit alle Reserven, quetscht Öl aus den sandigen Böden Alaskas und wird sich – zum ersten Mal in der Geschichte – als öl-autark erweisen. Andererseits steigt der Verbrauch in erdölarmen Ländern wie Indien und China in gigantischem Ausmaß. Es ist also im Grunde gar nicht so entscheidend, wann genau wir „Peak Oil“ erreichen. Politische Konflikte und die CO2-Frage werden den Rohstoff massiv verknappen und verteuern. Und den Weg zu neuen Energiesystemen frei machen, die heute schon gewaltige Investitionen erzeugen.

Müssen wir uns nach „Peak Oil“ auch für einen „Peak Energy Use“ wappnen? Seit vielen Jahren sinkt der Einsatz von Primärenergie pro Einheit des Bruttosozialproduktes. Derzeit wird dieser Effekt noch von der gewaltigen Wohlstandswelle der Schwellenländer kompensiert. Aber nachwachsende Rohstoffe und erneuerbare Energien, die niedrige Entropie aus dem Energieeintrag der Sonne beziehen, stellen klimatechnisch kein Problem dar. 

Wie Michael Braungart, der Erfinder des „Cradle to Cradle“-Ansatzes, nicht müde wird zu betonen, gibt es kein allgemeines Energieproblem, sondern ein Kohlenstoff-Management-Problem. Deshalb sollte man nicht auf Öko-Effizienz, also Vermeidung, sondern auf Öko-Effektivität, das heißt positive Verschwendung abzielen. „Was wäre, wenn die Menschen Produkte und Systeme entwerfen würden, in denen die Fülle menschlicher Kreativität, Kultur und Produktivität zum Ausdruck käme? Die so intelligent und sicher sind, dass unsere Spezies einen großen ökologischen Fußabdruck hinterlässt, an dem sich alle Lebewesen erfreuen können, statt über ihn zu lamentieren“, fragt Braungart. Seine zentrale Botschaft: Wenn es uns gelingt, durch intelligentes und verantwortungsbewusstes Design geschlossene Stoffkreisläufe „von der Wiege zur Wiege“ zu schaffen, können wir es uns leisten, auf den Verzicht zu verzichten.

Bevölkerungs-Peak

Existierten bis in die 90er-Jahre hinein kaum Daten über Geburtenraten, aktuelle Menschenzahl, Fertilitätstrends in den meisten Ländern der Erde, hat der Fall des Eisernen Vorhangs diese Situation rapide geändert. Praktisch alle Nationen der Erde (Ausnahme Nordkorea und einige Bürgerkriegsländer in Afrika) liefern heute verlässliche Daten ihrer Populationsentwicklung:

  • Die Geburtenrate pro Frau im Lebensverlauf
  • Die Sterbe- und Alterungsrate
  • Die absolute und relative Fertilität Säuglingssterblichkeit, Kindbettsterblichkeit
  • Die Trends der Familiengrößen, Abstände zwischen den Geburten etc.

Auf www.gapminder.org lassen sich diese Daten heute in dynamischen Grafiken verfolgen. Um aus den Daten eine stabile, valide Prognose zu machen, müssen wir sie allerdings in ein „integriertes System“ bringen. Geburtenraten sind abhängig von Faktoren wie Bildungszugang der Frauen, Verhütungsmittelverfügbarkeit, Familienrechten, Urbanisierung, Ehegesetzgebung – aber auch ökonomischen Parametern. Wohlstand bedeutet immer geringe Kinderzahl, wobei die Fertilität nach einer gewissen Zeit wieder etwas ansteigt, jedoch nie über die „Balancegrenze“ (bei 2,1 Kindern pro gebärfähige Frau stabilisiert sich die Bevölkerungsanzahl mittelfristig). Allein die anhaltende Verstädterung der Erde wird die Welt-Geburtenrate massiv reduzieren, und der Megatrend Gender Shift ist selbst in Afrika ein immer stärker werdender Einflussfaktor in Richtung Familienplanung.

Die mit Abstand plausibelste – und sich stetig „stabilisierende“ – Hochrechnung für die Zukunft der Weltpopulation ist das „mittlere Standardmodell minus x“. Es basiert auf den Großmodellen der UNO, stellt aber in Rechnung, dass auch Kriege und Krisen zunehmend zu Einbrüchen der Fertilität führen, statt wie früher zu einem „Geburtenausgleich“. Somit lässt sich der Peak der Weltbevölkerung zwischen 2050 und 2060 setzen. Wahrscheinlichster Wert: 9,3 Milliarden Menschen. Spanne: zwischen 9 und 9,5. Von da an wird die Menschheit rascher schrumpfen, als man dies bislang annahm. Im Jahr 2150 werden weniger Menschen als heute auf der dann immer noch blauen Erde leben – unter 7 Milliarden.

Peak People

Die Idee der bedrohlichen „Bevölkerungsexplosion“ wurde zum ersten Mal im 18. Jahrhundert von Thomas Malthus, einem englischen Nationalökonomen, als Theorie der Zukunft formuliert. Malthus nahm an, dass die Verbesserung der Nahrungsgrundlage, wie der beginnende Industrialismus sie erzeugte, über kurz oder lang zu Hungersnöten führen musste. Denn durch mehr Nahrung würden die „einfachen Leute“ mehr Kinder zeugen, und dies müsste zu einer „kaninchenhaften“ Vermehrung führen, was zwangsläufig in die Katastrophe führen würde. Weil die Nahrungsproduktion bestenfalls linear ansteigt, die Vermehrung aber einem exponentiellen Muster folgt, tut sich über kurz oder lang eine klaffende Lücke der Unterernährung auf.

Solche einfältigen Weltbilder sind auch heute noch in der Öffentlichkeit weit verbreitet (das Sarrazin-Syndrom). Die Idee der „Übervölkerung“ hat sich fest ins kollektive Angst-Bewusstsein eingeschrieben, durch ökologische Weltmodelle wird diese Angst eher verstärkt als moderiert. Der „ökologische Fußabdruck“ muss bei steigender Weltbevölkerung zwangsläufig zum „Zusammenbruch der Ökosysteme“ führen – so ein verbreiteter Aberglaube. Der Club of Rome ebnete mit seinen stark unterkomplexen Weltmodellen dieser einfachen linearen Rechnung, die inzwischen Common Sense ist, das Feld.

Heute wissen wir sehr viel mehr über die Entwicklung der Weltbevölkerung. So viel, dass sich der Zeitpunkt von Peak People, also der Zenit der Weltbevölkerung, immer besser ausrechnen lässt. Dabei sind folgende Parameter und Zusammenhänge wichtig:

Die Geburtenrate folgt nicht dem Nahrungsangebot, sondern der soziokulturellen Entwicklung eines Landes. Aus Großfamilien werden immer Kleinfamilien, wenn die Verstädterung und das Wohlstandsniveau eine gewisse Grenze überschreiten. Dieser Effekt ist nahezu kultur-unabhängig; er findet in islamischen Kulturen ebenso statt wie in katholischen (in katholischen bisweilen sogar etwas langsamer).

  • Der „demographische Sprung“ von der Großfamilie in die Kleinfamilie ist heute in 95 Prozent aller Länder der Erde abgeschlossen oder in vollem Gange. Ausnahmen bilden „Failed States“ wie Afghanistan, Somalia, Kongo. Auch in den stabilen Ländern Afrikas sinkt die Geburtenrate. In den entwickelten arabischen Ländern liegt sie heute auf oder unter der Reproduktionsgrenze von 2,1 Kindern pro gebärfähige Frau (Iran 1,7, Ägypten 2,4).
  • Ist die Schwelle zur Kleinfamilie in entwickelten Gesellschaften erst einmal überschritten, sinkt die Geburtenrate schnell weiter ab. Mit steigender Berufstätigkeit der Frauen entwickelt sich ein „Baby Gap“, weil immer mehr Frauen (und auch Männer) den Kinderwunsch verzögern. Viele der eigentlich gewünschten Kinder kommen dann nicht mehr zustande. Diese Effekte lassen sich heute bereits in den großen Schwellenländern sehen: Indien, Brasilien, China sowieso. Aber auch Bangladesch hat durch eine geschickte Bevölkerungspolitik seine Geburtenrate massiv abgesenkt (auf sagenhafte 2,2 Kinder pro Frau).
  • In der weiteren Folge kommt es zu Work-Life-Balance-Reformen, die die Geburtenrate wieder (leicht) erhöhen. So konnten Frankreich, Kanada, Skandinavien ihre Geburtenrate von 1,4 bis auf 1,8 (Schweden) bzw. 2,0 (Frankreich) erhöhen, durch Ganztagsschulen, konsequente Kinderbetreuungsangebote und eine andere Zeit- und Emanzipationskultur. Die Geburtenrate steigt jedoch nach dem demographischen Sprung nie wieder über die Reproduktionsgrenze von 2,1, weil sich die Tendenz zu weniger Kindern soziokulturell und statistisch verstetigt (der sogenannte Spill-Down-Effekt). Weniger Kinder erfordern in komplexen Wirtschaftsgesellschaften trotzdem mehr Aufmerksamkeit und Bildungsinvestitionen, mehr Zeitinvestition und Lebensrisiko.
  • Die mittlere Geburtenrate der Erde beträgt heute 2,35 Kinder pro gebärfähige Frau, bei einer Sinkgeschwindigkeit von rund einem zehntel Prozentpunkt pro Jahr. In den nächsten 15 Jahren wird bereits die „Ersatzrate“ erreicht. Von da an ist die Sterberate höher als die Geburtenrate. Durch den Alterungseffekt kommt es jedoch noch nicht zu einem Schrumpfen der Weltbevölkerung – bis circa Mitte des Jahrhunderts.
  • In der Vergangenheit haben die Prognosen die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung fast immer deutlich überschätzt. Viele UNO-Institutionen, aber auch NGOs überzeichnen die Bevölkerungsentwicklung, um nicht „bevölkerungspolitische Entwarnung“ zu geben.

In der Kombination der Studien, die heute verfügbar sind, unter Einrechnung der Verzerrungseffekte und bei wesentlich verbesserten Datensätzen (z.B. Gapminder), lässt sich Peak People für den Zeitraum zwischen 2050 und 2070 antizipieren. Die Weltbevölkerung wird aller Wahrscheinlichkeit nach niemals größer als 9,3 Milliarden Menschen sein. Eine Anzahl, die der Planet Erde durchaus „verkraften“ kann.

Peak Stuff

In Amerika, der „Mutter der Konsumwelt“, hat sich in der Verlängerung von „No Logo“ und neuem Öko-Bewusstsein in den letzten Jahren eine massive antikonsumistische Bewegung entwickelt, die in der ständigen Vermehrung materieller Produkte ein massives Zivilisationsproblem sieht. Galionsfigur ist die Journalistin und Aktivistin Annie Leonard, die unter storyofstuff.org eine Web-Plattform zur „Reduzierung des Dinge-Wahns“ betreibt. Mit raffiniert gemachten Zeichentrickfilmen wird hier die Geschichte der „totalen Vermüllung unseres Lebens“ erzählt – mit enormer Wirkung auf ein immer breiteres Publikum. Dabei geht es nicht nur um eine Kritik an umweltschädlichen und ausbeuterischen Produktionsweisen der „Wegwerfgesellschaft“, sondern im Kern auch um die Frage der Quantität: ob all die Dinge, die wir anhäufen, wirklich zur Steigerung der Lebensqualität beitragen.

„Die persönliche Lebenszufriedenheit wächst in Ländern wie Deutschland oder Amerika schon lange nicht mehr, irgendwann in den 70er-Jahren hat sie aufgehört zu steigen, bei einem Besitz von 6.000 Dingen vielleicht oder 7.000“, schreibt Wolfgang Uchatius in seinem viel beachteten ZEIT-Artikel „Kapitalismus in der Reichtumsfalle“. Heute besitzt der durchschnittliche Westler geschätzte 10.000 Dinge. Aber: Je mehr Dinge wir besitzen, desto weniger kommen wir dazu, jedes einzelne davon zu nutzen. Allein das produziert Frustration.

„Peak Stuff“ ist der Titel einer Studie des englischen Ökologie-Journalisten Chris Goodall, der in Großbritannien zum ersten Mal eine Abnahme des materiellen Ressourcenverbrauchs nachweist. Nach Goodalls Aufstellung, die sich unterteilt nach Biomasse, Mineralien und fossiler Energie, wurde Peak Consumption im Königreich 2004 erreicht. Seitdem sind viele Indikatoren des materiellen Verbrauchs rückläufig: Vernutzung von Rohstoffen und Primärenergie, der Wasserverbrauch, Einsatz von Düngemitteln, Zulassungszahlen von Neuwagen, selbst der Kalorienkonsum pro Kopf. Weil die Entwicklung schon deutlich vor der Finanzkrise begann, als die britische Wirtschaft noch prosperierte, kann Goodall ausschließen, dass es sich um einen Effekt des Wirtschaftseinbruchs handelt. Seine Schlussfolgerung lautet: Im Vereinigten Königreich ist die Abkopplung wirtschaftlicher Prosperität vom physischen Materialeinsatz bereits vollzogen. Dies zeige, dass Wohlstandssteigerung ohne Mehrverbrauch möglich ist.

Spätestens seit der Finanzkrise tobt die Debatte, ob Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren kann, ob man sich eine zufriedene Ökonomie im „steady state“ vorstellen kann, die sich vom BIP-Wachstum als Wohlstandsindikator verabschiedet. Der Brite Tim Jackson, der Amerikaner Hermann Daly, neuerdings auch Meinhard Miegel, sind die Exponenten einer Häretiker-Bewegung, die mit der traditionell auf Wachstum gepolten Ökonomiker-Zunft überkreuz liegen, aber nicht nur bei der Occupy-Bewegung auf Zuspruch stoßen. Laut einer Emnid-Umfrage bezweifeln 60 Prozent der Deutschen, dass Wirtschaftswachstum zu mehr Lebensqualität führt. Im gleichen Jahr setzte der Bundestag eine Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ ein, um die Möglichkeiten der Entwicklung eines ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikators auszuloten (bislang ohne Ergebnisse). Auch in Frankreich wächst die Bewegung der „Decroissance“, der Wachstumsverweigerung.

Vertreter der klassischen Ökonomie argumentieren dagegen, dass Wirtschaftswachstum auch ohne Ressourcenverbrauch, etwa durch die Steigerung immaterieller Wertschöpfung zu haben ist. Die Umwelt-Kuznets-Kurve (benannt nach Simon Smith Kuznets, der einen glockenkurvenförmigen Verlauf für die Einkommensungleichheit einer Gesellschaft postuliert hatte) besagt, dass sich die Entwicklung eines Landes aus einer relativ sauberen Agrarökonomie über eine stark verschmutzende Industriegesellschaft hin zu einer wieder relativ umweltfreundlichen Dienstleistungsgesellschaft vollzieht.

Selbst Wachstumskritiker wie Jackson betonen: „Eine Nullwachstumsgesellschaft ist doch keine ohne Kreativität und Veränderungen. Es ist eine Wirtschaft, in der Wohlstand zunimmt, selbst wenn sich Einkommen nicht erhöhen.“ Erste Ansätze, das Undenkbare zu denken. Aber eine wirkliche Blaupause, wie eine Post-Growth-Ökonomie tatsächlich funktionieren kann – wie man etwa den Finanzmärkten die Zinserwartung austreibt, wenn es kein reales Wachstum und damit keine Realverzinsung mehr gibt –, liegt noch nicht vor. Auch die gesellschaftliche Fixierung auf Erwerbsarbeit wäre zu knacken, denn alles spricht dafür, dass ein stabiler Arbeitsmarkt oder gar Vollbeschäftigung im derzeitigen System nur bei konstanten Wachstumsraten zu haben sind.

Post-Growth-Happiness

Wie sich ein positives Lebensgefühl eines solchen „Gipfelwohlstandes“ anfühlen könnte, zeigt Japan. Dort sorgt gerade ein soziologisches Buch für Furore, das auf die „Krise“ der Gegenwart eine lebenskluge Antwort gibt. Der 26-jährige Noritoshi Furuichi beschreibt in „Die glückliche Jugend im Land der Hoffnungslosigkeit“ eine Post-Peak-Gesellschaft, die weder unglücklich noch dekadent noch hoffnungslos ist. Sondern sich einfach mit ihren Grenzen, aber auch ihren Möglichkeiten arrangiert. Und dabei sogar neue Ressourcen von Lebensqualität erschließt.

Japan ist eine Gesellschaft, die es „so“ gar nicht geben dürfte. Seit eineinhalb Jahrzehnten stagniert die Wirtschaft. Die Gesellschaft altert rapide, hat eine der geringsten Geburtenraten, und nach ökonomischen Gesichtspunkten müssten Exportabhängigkeit und Reformunfähigkeit der Politik ein ökonomisches Desaster ergeben. Aber es passiert nicht. Das Bruttosozialprodukt wächst nicht wirklich, schrumpft aber auch nicht dramatisch. Was an materiellen Wohlstandserwartungen verlorengeht, wird durch kulturellen Wohlstand kompensiert. Japaner sind heute durchschnittlich glücklicher als zu Zeiten des ökonomischen Booms – und das trotz der Triple-Katastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Fukushima.

Einer der Gründe ist, dass die japanische Gesellschaft sich strukturell modernisiert hat – und zwar gerade weil der Boom zu Ende ging. Work-Life-Balance wird langsam ernstgenommen, die Geschlechterrollen ändern sich subtil, die Überstundenkultur, in der „Karoshi“, der Tod durch Überarbeitung, an der Tagesordnung war, mildert sich ab. Die Gesellschaft verliert nach dem Ende eines „heißen Booms“ auch viele ihrer Verrücktheiten – eine wichtige Erkenntnis. Sie wird „vernünftig“ im Sinne einer neuen Suche nach Werten und Balance.

Die Alterung ist in Japan nicht wirklich Ursache für ein ökonomisches Desaster. Das liegt an der erstaunlichen Flexibilisierung, mit der die japanische Kultur heute Arbeit bis ins hohe Alter ermöglicht (freie Wahl der Arbeitszeit, Mentorenkonzepte und vieles mehr). Auch eine andere Gesundheitskultur trägt zur Lebensqualität bei: Japan hat nicht umsonst die höchste Lebenserwartung eines Flächenstaates der Welt; Japans Alte bleiben länger fit und leiden viel weniger an Alterskrankheiten wie Übergewicht und Diabetes. Die staatliche Altersvorsorge ist gut ausgebaut, wird aber durch Nachbarschaftshilfe und kommunale Solidarität ergänzt. Hohe Eigenverantwortung wird gepaart mit enormen Ressourcen der Zivilgesellschaft: Japanische „Oldies“ treiben bis ins hohe Alter Sport, sie sehen sich selbst als „Bewohner eines ehrwürdigen Körpers“. So entsteht das, was in der Alterforschung „compressed morbidity“ genannt wird – eine kürzere Morbiditätsspanne vor dem Tod.

Der Preis für all das ist allerdings eine Tendenz zur Abschottung und Autarkie: Die Anzahl der Jungen, die „froh darüber sind, in Japan geboren zu sein“, ist zwischen 1973 und 2008 von 82 auf 98 Prozent gestiegen. Die Jüngeren haben immer weniger das Bedürfnis, ins Ausland zu reisen oder gar dort zu studieren oder zu arbeiten. Die Politikmüdigkeit ist groß, politischer Protest wird eher durch den Spaßfaktor bestimmt als durch existentielle Gemütslagen.

Ein Motiv der „anspruchslosen Zufriedenheit“ der Jugend ist das Internet, das via Gaming-Kultur und Social Networks eine innerweltliche Expansionssphäre bietet, die viele Bedürfnisse nach Abenteuer, Selbst-Erweiterung und Spannung auffängt. Auch wenn viele Jugendliche den Einstieg in klassische Berufskarrieren nicht finden, finden sie doch Wege ökonomischer Improvisation. Gegen die korporatistische Arbeitskultur wächst die Bewegung der „Freeters“, die japanische Spielart der „digitalen Bohème“: kreative Freelancer mit Auftragsjobs oder als vernetzte Selbstversorger jenseits der kommerziellen Wirtschaftssphäre. Japans kreative Szene ist zumindest in den Großstädten ein Biotop von Durchwurstel-Lebensstilen.

„Nach-Wachstums-Gelassenheit“ (oder „fröhlicher Pauperismus“) muss nicht immer im japanischen Stil einherkommen. Aber das Beispiel Japan zeigt, dass Post-Growth-Gesellschaften keineswegs automatisch Elends- und Konfliktgesellschaften werden müssen. Eine sanfte Schrumpfung der Ökonomie ist verkraftbar, und womöglich gar ein kulturhistorischer Vorteil, wenn es gelingt, eine andere Vorstellung von Lebensqualität zu entwickeln (etwa im Rahmen von „Lebensglück-Indizes“, die das Bruttosozialprodukt als Wohlstandskriterium ersetzen). Die Vorstellung, dass aus ökonomischer Stagnation immer Verteilungskämpfe und sozialer Zerfall entstehen müssen, ist falsch. Sie basiert auf veralteten, linearen Modellen der Ökonomie. So wie John Maynard Keynes in der Weltwirtschaftskrise 1928 bereits kommende Epochen eines neuen Wohlstands voraussah, können wir als Bewohner von „Peak Time“ auch andere Lösungen und Lebensweisen antizipieren.

Literatur: 
Joseph A. Tainter: The Collapse of Complex Societies. 1990 
Michael Braungart und William McDonough: Die nächste industrielle Revolution. Die Cradle to Cradle-Community. 2008 
Annie Leonard: The Story of Stuff. Wie wir unsere Erde zumüllen. 2010 
Wolfgang Uchatius: Kapitalismus in der Reichtumsfalle. DIE ZEIT, 10.11.2011 
Chris Goodall: Peak Stuff. Did the UK reach a maximum use of material resources in the early part of the last decade? 2011 
Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. 2011

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