PoS: Der Point of Situation

Im Kampf um die Gunst des Konsumenten wird der Handel sein bekanntes Terrain – online wie offline – verlassen. Dabei wird der Point of Sale zum Point of Situation.

Von Theresa Schleicher (04/2016)

© Bayerische Hausbau GmbH & Co. KG / www.hausbau.de / Pop-up Store im Bikini Haus Berlin / www.bikiniberlin.de

Der Konsument der Zukunft ist verwöhnt. Er spielt nicht mehr nach den Regeln des klassisch stationären Handels, er definiert seine eigenen. Kein Wunder, schließlich erhält er durch ein Überangebot von Waren in Städten und in zahlreichen Online-Shops die Bestätigung, fast alles haben zu können, was er möchte – und zwar genau dann, wann er es möchte. Dies hat zur Folge, dass die Präsenz von Marken und Händlern in der Einkaufsstraße für den Käufer immer weniger ausschlaggebend ist. Der einfachste, schnellste Weg, die höchste Convenience, gewinnt an Bedeutung. Immer wichtiger werden deshalb neue, flexible Standorte, die es dem Käufer besonders einfach machen und sich in seinen Alltag integrieren.

Für die Retail-Branche bedeutet diese Entwicklung ein Überdenken ihrer bisherigen stationären Grenzen, aber auch ihrer digitalen Beschränkungen. In Zukunft gilt es, Kunden nicht nur in ihrer Lebenswelt abzuholen, sondern auch in einer bestimmten Situation. Der Touchpoint zum Konsumenten kann in unserer vernetzten, hochindividualisierten Gesellschaft überall sein. Kunden kommen immer weniger in den Laden oder Shop. Händler müssen künftig dort sein, wo der Konsument ist.

Das Prinzip der Pop-up-Stores macht sich die situativen Konsumwünsche bereits zunutze, indem die Verkaufs- oder Präsentationsfläche flexibel dorthin bewegt wird, wo sich potenzielle Kunden aufhalten. An hoch frequentierten Orten und angesagten Plätzen zeigt sich der Handel in neuer Form: unkonventionell, laut oder als vermeintlicher „Geheimtipp“ – aber doch immer für ihre Kunden gut erreichbar. Selbst Traditionsmarken setzen auf Pop-up: So bot der Naturkosmetikhersteller Weleda in einer temporär angemieteten Box in der hippen Concept-Mall, dem Bikini Haus, seine Produkte zum Verkauf an, bevor er nach dieser Testphase ein Shop-Atelier in Berlin-Mitte eröffnete. Standorte, die den Kunden in seiner täglichen Lebenswelt abholen, werden für den Handel immer ausschlaggebender. Für die Konsumenten von morgen sind die Handelsgeschäfte von heute nur noch selten federführender Akteur ihres Lebens, sondern Begleiter ihres mobilen und individuellen Alltags.

Zu einer Neuplatzierung des PoS rät auch eine Studie der Kreativagentur Interone, in der die Erfolgskriterien moderner Retail-Geschäfte beschrieben werden. So sind die erfolgreichen Stammgeschäfte überwiegend praktisch, hilfreich, zeitsparend und fest in die alltäglichen Wege und Routinen integriert. Mehr noch: Bis zu 66 Prozent der Menschen kaufen dort ein, wo sie gerade vorbeikommen und entscheiden damit über den Absatz-Erfolg.

Der Verkauf wird zunehmend zum „Dazwischen“-Geschäft. Immer mehr Retailer aller Branchen kreieren in Folge neue Verkaufsflächen und Distributions-Lösungen, die sich stärker im täglichen Umfeld des Käufers wiederfinden: Event-Kooperationen, mobile Handelsflächen oder neue Verkaufskonzepte an alltäglichen Standorten, wie z.B. an der U-Bahn-Haltestelle vor dem Büro. Das weltweit bekannteste Konzept für den Stegreif-Konsum im Dazwischen entwickelte die Supermarktkette Tesco, indem sie in einer U-Bahn-Haltestelle in Südkorea einen virtuellen Supermarkt eingerichtet hat. Auf eine weniger verkaufsorientierte Art macht es Mercedes-Benz. Auf Stadtteilfesten in Hamburg war der Autobauer bereits mit einem Pop-up-Store in Form eines Seecontainers vertreten, um junge Zielgruppen in ihrer Lebenswelt abzuholen. Hierbei geht es nach eigenen Angaben weniger um direkten Vertrieb, sondern vor allem um das Markenerlebnis.

Die Erschließung neuer Verkaufsflächen wird zur Hauptaufgabe der Lifestyle Distribution. Doch das erfordert viel Flexibilität. Virtuelle Stores mit interaktiven QR-Plakaten oder Augmented Reality-Läden bieten Händlern die Möglichkeit, Standorte und den Räume individuell zu gestalten. Ein besonders flexibles Modell ist das mobile Vending. Die junge Unterwegs-Gesellschaft mobilisiert den Handel und führt zu neuen Konzepten auf Rädern. Zum Beispiel mobile Pop-Up Stores wie der in einen VW-Bus eingebaute Store von Adidas, mit dessen Hilfe in Sao Paolo die neueste Skateboard-Kollektion an Passanten verkauft wurde. Oder die Pepsi-Getränkeautomaten, die im Hintersitz von Londoner Taxen eingebaut sind, um jedem Fahrgast eine Erfrischung anzubieten.

Dass die Kunden-passgenaue Distribution von sehr vielen individuellen Faktoren des Käufers abhängt, stellt eine Herausforderung für den Handel dar. Eine von Fujitsu in Auftrag gegebene europaweite Einzelhandelsstudie bestätigt das individuelle Erlebnis am Point of Sale als einen der wichtigsten Erfolgsfaktoren in der Retailbranche. Die Individualisierung der Gesellschaft ist inzwischen so weit vorangeschritten, dass ein Denken in klar abgrenzbaren Zielgruppen zu kurz greift. Ein einzelner Kunde hat ein breites Spektrum an Motiven und Bedürfnissen, Rollen und Situationen im Alltag, die sich auf das Kaufverhalten ausprägen und es komplexer und volatiler gestalten. Selten ist es daher für den Handel getan, einfach weitere neue Läden an einem anderen Ort zu eröffnen. Der kontext-bezogene Verkauf wird in diesem Zusammenhang immer wichtiger und verlangt mehr Empathie gegenüber den einzelnen Kaufsituationen.

Auch große Unternehmen, wie Adidas, beginnen ihre Distribution situativer zu gestalten, indem sie sich nicht mehr nur auf ihre prestigeträchtigen Flagship-Stores konzentrieren, sondern auf das richtige „Momentum“. So nennt Deutschlands erfolgreichste Kreativagentur Jung von Matt das Phänomen der richtigen „Momentaufnahme“, die es in der Kommunikation einzufangen gilt. Der Moment of Truth war früher meist eng mit der Kaufentscheidung im Laden verbunden. Heute – angetrieben durch die Megatrends Individualisierung und Mobilität – können diese Momente überall stattfinden. Sie sind impulsgetriebener und hängen stark von der Motivation des Käufers ab. Ausschlaggebend ist, ob man diese Momente richtig für sich nutzen kann.

Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Retail Report 2016

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