Die 6 positiven Tipping Points zur erfolgreichen Klimawende

Welche zentralen Kipppunkte und konstruktiven Durchbrüche die Klimawende ins Rollen bringen. Ein Auszug aus der Klima-Regnose von Matthias Horx.

Bild: Unsplash/Drew Hastings

In der Klimaprognostik ist oft von Tipping Points die Rede. Das sind jene schwer zu bestimmenden, nie exakt definierbaren Punkte, an denen etwas „umkippt“ – etwa einzelne Ökosysteme, das Klima oder ganze Populationen. Werden diese Kipppunkte überschritten, ist eine negative Dynamik nicht mehr aufzuhalten. Es folgt das Desaster, die totale Zerstörung.

Es gibt aber auch das Gegenteil: positive Tipping Points. Vor allem in sozialen Kontexten können wir immer wieder erleben, dass Emanzipationsprozesse – etwa das Civil Right Movement im 20. Jahrhundert der USA – plötzlich eine große Dynamik entwickeln und innerhalb kürzester Zeit Quantensprünge vollziehen. Könnte es in Sachen Klimawende nicht auch zu solchen konstruktiven Durchbrüchen kommen? Etwa wenn die erneuerbaren Energien plötzlich exponentielle Wachstumsraten erreichen? Wenn Elektroautos plötzlich einen Boom erleben? Wenn auf breiter Front das Klimabewusstsein und der Wille, zu handeln, zunehmen?

Die Grazer Wissenschaftlerin Ilona M. Otto hat mit einer neuen Forschungsgruppe zu sozialer Komplexität und Systemdynamik ein ganzheitliches Modell der Klimawende entwickelt. Das Modell untersucht die Wechselwirkungen von Bildungs- und Wertesystemen, Finanzmärkten, Produktionsweisen und Technologien in Bezug auf die Dekarbonisierung. Finanzmärkte reagieren relativ schnell, können aber auch ebenso schnell wieder „zurückkippen“. Wertesysteme hingegen wandeln sich langsam, doch ihre Entwicklung ist nur schwer wieder rückgängig zu machen. Je mehr Elemente den Tipping Point hin zur Energiewende überschreiten, desto größer wird auch der Druck auf die anderen Gesellschaftsbereiche. Der Wandel zu einer ökologischen Gesellschaft kann so plötzlich eine enorme Dynamik entfalten. Dann finden Durchbrüche in Richtung Wandel statt.

Besonders interessant daran ist, dass es für einen sozialen Kipppunkt gar nicht unbedingt eine gesellschaftliche Mehrheit braucht. Im Gegenteil, oft kann eine engagierte und hartnäckige Minderheit den Stein ins Rollen bringen. Zentrale Kipppunkte sind etwa erreicht, wenn …

  • … mehr als 25 Prozent der Bevölkerung sich für die Klimawende mit eigenen Handlungen engagieren.
  • … Emissionen und CO2-Ausstöße sichtbar und transparent gemacht werden.
  • … die erneuerbare Energieerzeugung ökonomisch lukrativer wird als die fossile.
  • … das Thema Klimawandel fester Bestandteil der Grundbildung wird.
  • … ein erheblicher Teil der Finanzmarktinvestitionen aus dem fossilen Sektor abfließt (10 Prozent reichen schon!).
  • … sichtbare und faszinierende Leuchtturmprojekte Lösungen aufzeigen.


Im Zusammenwirken dieser Faktoren entsteht eine sich selbst verstärkende Dynamik, die nicht mehr aufzuhalten ist. Ein Schneeballeffekt. Jenseits der Tipping Points jedoch wirken die Dynamiken wie von selbst: Alles gerät ins Fließen, in die dynamische Veränderung in Richtung Zukunft. Auch das ist ein Grund für den immensen Erfolg von Greta Thunberg und Fridays for Future. Die junge Generation von Umweltschützerinnen und Klimaaktivisten steht auf dem Fundament von drei Jahrzehnten Sisyphusarbeit in Sachen Klimaschutz. Wertewandel und eine umfassende Umweltbildung – zumindest in entscheidenden Teilen der Weltgemeinschaft – haben bereits stattgefunden und den fruchtbaren Boden für die heutige Bewegung geschaffen.

Stehen wir vor einem sozialen Kipppunkt?

Wie realistisch ist es also, dass wir kurz vor einem solchen sozialen Kipppunkt stehen? Oft haben wir schließlich den Eindruck, dass sich in Sachen Klimaschutz nur wenig bewegt und noch weniger zum Guten. Ein Blick auf die Tatsachen zeichnet jedoch ein differenzierteres Bild. Seit 2016 hat das internationale Engagement für die Klimawende deutlich an Dynamik gewonnen. Mehr noch: Wir sehen, dass wichtige Meilensteine auf ganz unterschiedlichen Ebenen erreicht werden konnten.

Hohe Investitionen fließen in Unternehmen, die das Klima schützen, und ermöglichen einen schnellen Markteintritt von wegweisenden Forschungsprojekten und technologischen Innovationen. Unternehmen begreifen, dass der Zeitpunkt gekommen ist, sich eine Vorreiterrolle im postfossilen Wirtschaftssystem zu sichern und richten ihre Geschäftsmodelle daran aus. Immer mehr juristische Präzedenzfälle verankern das neue Werte-Set auch auf gesetzlicher Ebene.