Respekt statt Rente: Unternehmen entdecken die Alten neu

Mit den Eigenschaften, Fähigkeiten und der Weisheit der Alten sind wir imstande, Krisen und komplexe Herausforderungen in Unternehmen zu meistern. Grundlage hierfür ist es, Altern als Chance für eine prosperierende Vitalität zu begreifen und sich vom Jugendwahn zu verabschieden. – Ein Auszug aus dem Work Report 2019.

Von Ali Mahlodji

Wir werden alt, wir alle. Und das ist gut so, denn einher geht eine stetig steigende Lebensqualität, die das „Altsein“ einer neuen Dynamik unterwirft. Wer 2015 geboren wurde, hat im Durchschnitt laut HALE-Index der WHO in Deutschland 71,3 und in Österreich sogar 72 gesunde Lebensjahre vor sich. Drei Viertel der im Jahr 2013 65-jährigen Deutschen fühlten sich nach Angaben des Statistischen Bundesamtes noch fit und ohne jegliche gesundheitliche Beeinträchtigung. Und künftig werden immer mehr Menschen das magische Alter von 100 Jahren erreichen. Mit 50 Jahren stehen wir dann in unserer Lebensmitte – wer möchte also an einen Renteneintritt mit 68 Jahren denken oder gar an Vorruhestand?

Bereits 2030 werden laut Statistik Austria 43 Prozent der österreichischen Bevölkerung über 50 Jahre alt sein, und schon heute zeigt sich anhand einer Befragung von Seniors 4 Success, dass 50 Prozent dieser Silver Ager nach ihrem Pensionsantritt aktiv weiterarbeiten möchten. 

Un-Ruhestand – Spaß am Tätigsein 

2016 arbeiteten gemäß Statistischem Bundesamt bereits doppelt so viele Menschen in Deutschland jenseits des Rentenalters wie noch 2006. Umfragen zeigen, dass die Lust am Weiterarbeiten in erster Linie nicht dem Anstieg der finanziellen Herausforderungen geschuldet ist, sondern der intrinsischen Motivation zu arbeiten. Spaß an der Arbeit und der Wunsch nach einer Aufgabe sind schon längst nicht mehr alleiniges Vorrecht der Generationen X und Y, sondern vielmehr Ausdruck der Schaffenskraft des Menschen in Verbindung mit einem Zeitalter der Möglichkeiten. Diese neue Motivation der Alten trifft auf eine Unternehmenswelt, die diese Umsetzungsenergie von Wissen, Weisheit und „Alt sein“ als Kriterium für die Power, die unsere Leistungsgesellschaft jahrelang verschmäht hat, tritt eine Renaissance an, welche im Respekt vor der Weisheit mündet Erfahrung dringend benötigt.

Während die Jungen nämlich mit Dynamik, Energie und neuen Ansichten frischen Wind in die Arbeitswelt brachten, wurde ein entscheidender Punkt vernachlässigt: Manchmal ist man eher am Ziel, wenn man die Abkürzung über eine beschauliche Landstraße kennt, statt mit Vollgas über die Autobahn zu brettern. Die Alten verfügen über einen reichen Erfahrungsschatz, haben bereits Krisen erlebt und sehen daher vieles gelassener.

Wie wichtig diese Komponente ist, lässt sich etwa an Start-ups beobachten, die in kritischen Wachstumsphasen zu erfahrenen Mitarbeitern greifen, die neben der fachlichen Komponente sehr stark begleitend als Mentor fungieren, um mit ihrer Lebenserfahrung die blinden Flecken zu erkennen, die bei Tempo 180 gerne übersehen werden. Die Fähigkeit, Dynamik mit Wissen zu verbinden, verleiht einem wachsenden Jungunternehmen die Weisheit, welche normalerweise mit hohem Lehrgeld bezahlt wird.

Was Start-ups an Erfahrung benötigen, haben Unternehmen seit jeher in ihren Reihen; für sie gilt es, diese Erfahrung der Alten im Unternehmen zu verankern. Schließlich waren es in der früheren Geschichte der Menschheit – man denke ans antike Griechenland – auch immer die Weisen, zu denen man aufgeblickt hat. Heute schicken wir diese Weisen in Rente und wundern uns, warum Wissen verloren geht.

Die Symbiose von Alt und Jung

Um innovationsfähig zu bleiben und gleichzeitig die Weisheit als Mischung aus Wissen und Gelassenheit im Unternehmen zu fördern, bedarf es realer Symbiosen der Arbeitswelt, welche in allen Fällen auf gegenseitigem Respekt und auf Augenhöhe fußen:

  • „Living Library“

Das Unternehmen reaktiviert bewusst erfahrene Mitarbeiter aus dem Ruhestand, damit diese als „lebende Bibliotheken“ der Stammbelegschaft mit ihrem umfangreichen Erfahrungs- und Wissensstand zur Verfügung stehen. Bereits seit 2013 setzt Daimler mit dem Programm „Space Cowboys – Daimler Senior Experts“ auf das Wissen seiner Mitarbeiter, die bereits im Ruhestand sind. In auf sechs Monate befristeten Einsätzen greifen die erfahrenen Mitarbeiter auf ihr jahrzehntelang aufgebautes Daimler Netzwerk zurück und unterstützen die Abteilungen des Unternehmens in verschiedenen Projekten. Im Fokus des Konzepts steht der Wissenstransfer an die jüngere Generation.

Das Programm trägt Früchte, von denen Michael Brecht, Gesamtbetriebsratsvorsitzender, sagt: „Durch das Senior-Experts-Programm wird verhindert, dass das große, unschätzbare Erfahrungswissen unserer Kolleginnen und Kollegen im Ruhestand unwiederbringlich verloren geht. Es kann auf diesem Weg zur Lösung konkreter Aufgaben und Probleme genutzt werden – zum Vorteil aller: der Jungen, die daran partizipieren, der Ruheständler, die damit eine erfüllende Aufgabe haben, und nicht zuletzt des Unternehmens. Wir brauchen den Wissenstransfer und gleichzeitig viele junge Menschen, die aus der Ausbildung die neuesten Erkenntnisse in ihrem Fach mitbringen.“

  • „Reverse Mentoring aka Kill the Expert“

Klassische Mentoring-Modelle bedienen sich der Devise „von oben herab“, was gleichgesetzt wird mit „vom Älteren an den Jüngeren“. Das Denkmodell dahinter setzt voraus, dass der Mitarbeiter mit mehr Lebenserfahrung automatisch mehr Wissen hat, welches es zu verbreiten gilt. Vergessen wurde hierbei jedoch bisher, dass jüngere Mitarbeiter Wissen ins Unternehmen bringen, das andere Lebenswelten und Sichtweisen beinhaltet. In Mischung mit dem Wissen der Alten bringt das Innovationsvorteile – weil das Wissen vielschichtiger wird. Das Reverse Mentoring geht den Weg, dass jüngere die älteren Mitarbeiter in einem Themengebiet, in dem sie Profis sind, coachen. So entsteht neben dem Wissenstransfer auch Kommunikation und Akzeptanz auf Augenhöhe, wo vorher Trennung durch Lebensjahre dominierte. Obwohl dieses Modell bisher eher von großen Konzernen wie IBM, Henkel, Bosch, Continental, Allianz, Lufthansa oder Deutsche Telekom praktiziert wird, eignet es sich besonders für mittelständische oder kleine Unternehmen, da in diesen das Wissen des Einzelnen noch schwerer wiegt.

  • „Ageless Diversity“: Altersgemischte Diversität (Best of both Worlds – von Anfang an)

Corporate Diversity hat sich in den letzten Jahren aus der Nische von CSR-Bestrebungen hin zu einem Innovationsfaktor verschoben, der nachweislich den Unterschied machen kann. „Ageless“-Modelle beschreiben altersgemischte Teams als Teil der Diversity-Strategie eines Unternehmens. Statt Experten aus der Rente wieder ins Unternehmen zu holen, werden diese bereits während ihrer regulären Arbeitsphase mit jüngeren Mitarbeitern zusammengespannt, um aus den verschiedenen Sichtweisen Kreativität zu generieren. Diese vernetzte Kreativität der Lebenswelten führt zu besseren Lösungen. Das Technologieunternehmen Bosch meldet jährlich tausende Patente an, und das weltweit. Es führt dies selbst auf sein Bosch Seniorenexperten-Programm zurück, bei dem bewusst Mitarbeiter aus verschiedenen Generationen in gemischten Teams an Lösungsfindungen arbeiten.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Work Report 2019.

Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

Megatrend New Work

Megatrend New Work

Wie sieht die Zukunft von New Work aus, welche Entwicklungen treibt der Megatrend voran und wie wirkt der Wandel auf die Arbeitswelt der Zukunft?

Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Ali Mahlodji

Keynote Speaker Ali Mahlodji hilft Organisationen zu verstehen, wie New Work, Wissenskultur und Leadership im Zusammenspiel der Generationen gelingt.