Soziale Innovationen werden das Bild der Zukunft prägen. Wie sehen die neuen Gemeinschaften aus, die diese Bewegung vorantreiben?
Shareconomy und die Zukunft des Wir

Soziale Innovationen werden die Zukunft prägen, nicht technische. So lautete bereits vor einigen Jahren die These des Zukunftsinstituts. Neue kollektive Organisationsformen gehören dazu. Dahinter steht auch ein emotionales Bedürfnis: „Es gibt eine tiefe Sehnsucht nach kollektiven Identitäten und nach einer Kultur, die Beziehungen schafft. Dieses neu erwachende Vergemeinschaftungsbedürfnis kann von Handel und Industrie gar nicht ernst genug genommen werden. Marken werden zukünftig nicht mehr nur ihre Einzigartigkeit nach vorne stellen, die Konsumenten erwarten eine kollektive Vision“, schrieben wir 2009 im Zukunftsletter. Sich im Kollektiv wiederzufinden, so formulierten wir, und nach Identitäten zu suchen, die über das eigene Ich hinausgehen, werde zu einem zentralen Trend in der Gesellschaft, aber auch auf unseren Märkten.
Eine junge Generation prägt neue Gesellschaftsformen
Als ein Indikator diente uns der Wertemonitor des Zukunftsinstituts, „Wie geht’s der Welt?“, der 2008 in Zusammenarbeit mit GfK Roper entstand. Menschen in 25 Nationen wurden dort nach den für sie wichtigen Werten befragt. Zu den Top-10-Werten gehörten überall Familie, stabile soziale Beziehungen und Freundschaft, wohingegen Werte wie Macht (Platz 53), Status (Platz 49) und Egoismus (Platz 52) auf den hinteren Plätzen landeten. Währenddessen rief man in den USA gleich eine ganz neue Ära des Wir aus. Eric Greenberg gab 2008 ein Buch mit dem Titel „Generation We: How Millennial Youth Are Taking Over America and Changing Our World Forever“ heraus. Den Millennials sprach er darin nicht nur eine progressive Haltung sowie wirtschaftliche und soziale Macht zu, sondern auch das Potenzial, sich dieser gemeinsamen Macht bewusst zu sein und sie zu nutzen. „Wir müssen den Prozess der Restauration und der Transformation starten. Es gibt eine klare Agenda, unser Erbe und den Planeten wieder in Ordnung zu bringen“, hieß es vollmundig und hoffnungsvoll in dem mit „We-Declaration“ überschriebenen Schlusskapitel.
Der aufkommende Fokus auf das „Wir“ zeigte sich auch in einem neuen Megatrend, den wir am Zukunftsinstitut 2007 unter dem Namen „Konnektivität“ etabliert hatten. Gemeint waren damit nicht nur die sich ausbreitende technologische Vernetzung, sondern auch soziale Zusammenschlüsse, d.h. die grundsätzlich zunehmend netzwerkartige Organisation in Wirtschaft und Gesellschaft.
Bis heute ist Konnektivität für uns ein echter „Blockbuster“ unter den insgesamt elf Megatrends, die alle großen Veränderungswellen in Wirtschaft und Gesellschaft beschreiben. Denn Konnektivität steht in unmittelbarer Wechselwirkung mit den anderen Megatrends wie Urbanisierung, Globalisierung, Female Shift, New Work, neues Lernen etc. – und er bringt ein gutes Stück Destabilisierung in unsere Welt. Durch die zunehmende Vernetzung wird der sogenannte „Schmetterlingseffekt“ auf einmal im Alltag spürbar. Wenn an einer Ecke der Welt etwas passiert, kann sich das innerhalb kürzester Zeit auf andere Bereiche und Orte übertragen und massive Aufschaukelungsbewegungen auslösen. Wie das geht, haben uns Finanzkrise und unzählige Shitstorms im Internet gezeigt.
Endet der Individualismus?
Wie aber passt der Schub in Richtung Wir zusammen mit dem Megatrend Individualisierung? Zwar gab es schon immer Zusammenschlüsse, Kooperationen und Gemeinschaftsunternehmen, um den Anforderungen der Welt etwas Kraftvolles entgegenzusetzen. Heldengeschichten hatten in Politik und Wirtschaft Konjunktur. Doch das Blatt scheint sich zu wenden Von der Allmende, dem landwirtschaftlichen Gemeinschaftsbesitz, über Genossenschaftsbanken bis hin zu kirchlichen und sozialen Hilfsverbänden, Gewerkschaften, Betriebsräten usw. hat der Schulterschluss der Gemeinschaft Tradition. Diese Tradition hat in den letzten Jahrzehnten in westlichen Industrieländern allerdings an vielen Stellen Platz gemacht für eine Form von Individualismus, in der vor allem persönliche Stärke, der Einzelne und seine Leistungen zählte. Heldengeschichten hatten in Politik und Wirtschaft Konjunktur.
Doch das Blatt scheint sich zu wenden. Mit neuen Technologien in der Tasche und einer Kombination aus wegleitender Sehnsucht und starkem Innovationsdruck im Rücken scheint das Wir wieder salonfähiger zu werden. Das Pendel schlägt um – statt den Einzelnen mitsamt seinen Leistungen und seinem Gestaltungsspielraum zu überhöhen, wandert der Fokus zurück, wie die Landkarte des Wir eindrucksvoll zeigt. Wir bauen somit „soziales Kapital“ auf – und zwar in zweifacher Hinsicht, wie Robert Putnam und Lewis Feldstein in „Better Together“ argumentieren. Sie sprechen zum einen von „verbindendem sozialen Kapital“ in Netzwerken, die Menschen zusammenbringen, die sich ähnlich sind und miteinander etwas machen. Zum anderen gibt es soziale Netzwerke, die Brücken nach außen schlagen und verschiedene Gruppierungen zusammenbringen und umfassen. Und sie haben herausgefunden, dass der Grad der Bildung ein Indikator dafür ist, wie viel „soziales Kapital“ entsteht.
Wir und Ich: Lernen von der Soziologie
Doch auch in Zukunft wird das „Wir“ nicht das „Ich“ ersetzen – und der Megatrend Individualisierung nicht zu Grabe getragen. Ich und Wir sind keine Gegensätze – das eine braucht das andere, um sich auszubilden, wie die Soziologie schon lange weiß. Jedes Kind entwickelt sich erst durch seine Eltern, Geschwister, Freunde, Kindergarten und Schule zu einem sich selbst erfahrenden Ich. Doch wie steht es um das moderne Ich, das oft mit einem zur Selbstverwirklichung entschlossenen Macher assoziiert wird? Braucht es das Wir überhaupt noch?
Der Soziologe Ulrich Beck hat dazu mit seiner berühmt gewordenen Individualisierungsthese Folgendes herausgefunden: Mit dem Übergang zu einer funktional differenzierten Gesellschaft verändern sich die Ich- und Wir-Verhältnisse. Während in vormodernen Gesellschaften der Einzelne durch soziale Gebilde wie Religion, Familie und Stand auf seinem Platz gehalten wurde, haben sich diese starren “Schicksalsgemeinschaften” in der Moderne aufgelöst. Wo früher das Leben vorgezeichnet schien und man in unumstößliche Gruppen eingebettet war, muss man nun aktiv entscheiden und sein Leben in die Hand nehmen: welcher Job, welche Partei, welche Partnerin, welche Stadt?
Das ‚Wir‘ ist dabei nicht weniger wichtig geworden. Im Gegenteil. Die zahlreichen Subkulturen und Szenen, die Interessensgemeinschaften, von politischem Engagement über Sportund Musikgruppen bis hin zu eingeschworenen Fangemeinschaften, oder auch die teils verzweifelte Suche nach der großen Liebe sind nur einige Beispiele für das kontinuierlich tiefe Bedürfnis der Menschen, in Wir-Konstellationen aufzugehen. Allerdings macht sich das individualisierte ‚Ich‘ unserer Zeit selbst auf die Suche nach neuen Gemeinschaften und ‚Wirs‘. Diese bestehen aber nur noch auf Zeit – und man muss sie am Laufen halten. Der Einzelne macht damit die Erfahrung, dass mit quasi-endloser, unhinterfragter Gemeinschaftlichkeit nicht mehr wirklich zu rechnen ist.
Spannungsfeld Kollektive und Konnektive
Kein Wunder also, dass sich der öffentliche und mediale Diskurs um das Wir schnell erhitzt. Der kühle Blick auf Kollaborationen, Kollektivprozesse und Partizipationsansätze fällt gerade deshalb nicht leicht, weil es bei all dem auch um Grundsätzliches geht, um gesellschaftliche Tiefenbewegungen. Die momentan sichtbaren Veränderungen sind aufs Engste verknüpft mit impliziten Wertvorstellungen und Bewertungen; sich dem Normativen der Wir-Diskussion zu entziehen ist so kaum möglich. Während für die einen der Begriff des „Wir“ aufgeladen ist mit einer Vision einer besseren Welt von Post-Wachstum und der gemeinsamen Arbeit an innovativen sozialen Lösungen, sind andere „nur“ auf der Suche nach neuer Effizienz. Letztere Konstruktionen wären dann keine Kollektive, sondern „Konnektive“, wie Gesa Ziemer sie Das individualisierte ‚Ich‘ unserer Zeit macht sich selbst auf die Suche nach neuen Gemeinschaften in ihrem 2013 erschienenen Buch „Komplizenschaften“ bezeichnet. Beim Konnektiv, so sagt sie, rücken homogene Gruppendefinitionen zugunsten von überraschenden Neuverkettungen noch stärker als beim Konzept des Kollektivs in den Hintergrund. Die Lockerheit und weniger die Stärke der Beziehungen wird als konstruktiv bewertet – und damit treten Bindungseigenschaften hervor, die nicht auf Stabilität abzielen und trotz ihrer Fragilität eine hohe situative Wirkung erzielen. „Komplizenschaft“ bedeutet dann, dass es um das intelligente Kombinieren verschiedener Elemente, das aktive Verbinden geht, um die Welt neu zu gestalten.
Wo also haben wir es mit Kollektiven und wo mit Konnektiven zu tun? Mit dieser Frage ringt auch die Debatte um die Share Economy. Den Begriff „Shareness“ prägte übrigens der Harvard-Ökonom Martin Weitzman schon Mitte der 80er-Jahre. Im Zukunftsinstitut kommentierten wir diese Entwicklung 2011 folgendermaßen: „Wer allein bestimmen möchte, anstatt kooperative Lösungen zu suchen, wird in Zukunft immer weniger Chancen haben, zu bestehen. Das betrifft den Einzelnen ebenso wie Unternehmen und Organisationen.“ Doch um was geht es in der Share Economy heute? Um Tauschen, Spenden, Schenken, großzügig sein, Ressourcenschonung inklusive, oder um ein neues ökonomisches Kalkül?
Shareconomy: Selbstlose Freundlichkeit oder Totalkapitalisierung?
Harsche Kritik war zum Beispiel im Frühjahr 2013 in der „Zeit“ zu lesen: „Die Erwartungen an die Ökonomie des Teilens sind (...) oft so naiv und oft dermaßen übersteigert, dass sie sich kaum erfüllen werden. Stärker als den Beginn einer neuen Wirtschaftsordnung symbolisiert der neue Sharing-Hype eine Form der Realitätsflucht.“ Ähnlich abwehrend äußerte sich die FAZ: „Bläst man die Luft (...) aus der Share Economy hinaus, kommt etwas ganz anderes heraus: Nicht Teilen statt Haben ist der springende Punkt, sondern ganz im Gegenteil ein Zugewinn des eigenen Habens, das einen sich vom anderen unterscheiden lässt. Conspicious Consumption (demonstrativ Individualität zeigen) dominiert die vermeintliche Collaborative Consumption (Gemeinschaftskonsum)“. Reinhard Loske, Professor für Kulturreflexion an der Uni Witten/Herdecke, formuliert die „Anti-Vision“ so: „Das marktwirtschaftliche System wird diese soziokulturelle Innovation als Frischzellenkur nutzen.“
Auch der Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han setzte unlängst zur Entzauberung an: „Die Sharing-Ökonomie führt letzten Endes zu einer Totalkommerzialisierung des Lebens. Der von Jeremy Rifkin gefeierte Wechsel vom Besitz zum ,Zugang‘ befreit uns nicht vom Kapitalismus. Wer kein Geld besitzt, hat eben auch keinen Zugang zum Sharing. Auch im Zeitalter des Zugangs leben wir weiterhin im ,Bannoptikum‘, in dem diejenigen, die kein Geld haben, ausgeschlossen bleiben. ,Airbnb‘, der Community-Marktplatz, der jedes Zuhause in ein Hotel verwandelt, ökonomisiert sogar die Gastfreundschaft. Die Ideologie der Community oder der kollaborativen Commons führt zur Totalkapitalisierung der Gemeinschaft. Es ist keine zweckfreie Freundlichkeit mehr möglich. In einer Gesellschaft wechselseitiger Bewertung wird auch die Freundlichkeit kommerzialisiert. Man wird freundlich, um bessere Bewertungen zu erhalten. Auch mitten in der kollaborativen Ökonomie herrscht die harte Logik des Kapitalismus. Bei diesem schönen ,Teilen‘ gibt paradoxerweise niemand etwas freiwillig ab. Der Kapitalismus vollendet sich in dem Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft. Der Kommunismus als Ware, das ist das Ende der Revolution.“
Die Bewertung des Wir-Gedankens der Share Economy oszilliert also zwischen einer Einschätzung als Heilsbringer für eine neue Welt und der Angst vor weiterer Pervertierung des Ökonomischen, das auch noch den letzten Rest (echter) Gemeinschaftlichkeit zerstört. Damit wird auch klar: Die neuen „Wirs“ schließen vielleicht viele ein – aber andere auch aus.