Slow Travel

Die Tourismusbranche hat ihre Strukturen in der Vergangenheit auf Schnelligkeit und Effizienz hin entwickelt – und stößt damit an ihre Grenzen. Jenseits von Pauschalurlaub, Massentourismus und Jetset-Mythos etabliert sich daher jetzt Slow Travel als erfolgreiche neue Form von Erlebnisreisen.
Von Anja Kirig

Foto: Tadas Dziautas / www.visitnorway.com

Wer sich über „Slow“ Gedanken macht, dem kommt automatisch das Bild eines langsamen Tieres ins Gedächtnis. Nicht umsonst hat die Mutter dieser inzwischen gesellschaftlichen Breitenströmung, die Slow-Food-Initiative, die Schnecke im Logo. Mit ihrer Philosophie des „langsamen Essens“ zielen die Anhänger des Slow Food auf eine neue Genusskultur, eine bessere Qualität in der Ernährung und Gastronomie, letztlich auf einen Wandel der Lebensmittelindustrie. So ist es nicht verwunderlich, dass auch eine weitere Genussbranche mehr denn je in den Sog des Phänomens gerät: die Tourismus- und Freizeitwirtschaft.

Slow Travel lässt sich im Luxus- wie im Low-Budget-Segment realisieren, in der freien Natur ebenso wie in Städten, privat und im Rahmen geschäftlicher Anlässe. Das Phänomen hat seine Wurzeln im Megatrend Individualisierung und ist Teil des wachsenden Anspruchs nach Selbstgestaltung des eigenen Urlaubsideals. Das Tempo drosseln, Qualitätserlebnisse anders wahrnehmen, wirklich genießen statt nur Eindrücke sammeln – all das hat mit einer neuen persönlichen Haltung zu tun. Bedingt wird der Wandel durch das immer stärker verbreitete Gefühl, dass die Welt schneller zu werden scheint und der Alltag definitiv komplexer wird. Hier werden die Zeiten des Resets, des Pausierens, Tiefdurchatmens und Anhaltens umso wertvoller.

Die Neudefinition der Erlebnisgesellschaft 

Slow Travel steht heute für eine Neubewertung von Erlebnissen. Das, was bisher das Ideal der modernen Erlebnisgesellschaft ausgezeichnet hat, nämlich möglichst viel neuer Input, maximal gesteigerte Attraktion und immer neue Sinneseindrücke in möglichst kurzer Zeit, ist so eindimensional nicht länger gültig. Wer heute langsam und achtsam unter dem Aspekt „less is more“ verreist und seine Freizeit gestaltet, der strebt nicht nach Action und Adrenalin. Es ist vielmehr die Suche nach einer neuen Klarheit und Fokussierung in Körper und Geist. 

Gleichzeitig ist es eine neue Form von „Adventure-Reisen“. Denn wir haben es weitgehend verlernt „abzuschalten“, uns nur auf eine Sache zu konzentrieren, Details statt alles auf einmal im Blick zu haben. Beim Slow Travel geht es Slow Travel steht heute für eine Neubewertung von Erlebnissen. um die Herausforderung, die innere Spannung einer vermeintlichen „Leere“ auszuhalten – und die Qualität von Angeboten richtig wertschätzen zu können. Stille und Langsamkeit darf daher nicht „von hundert auf null“ umgesetzt werden, sondern muss mit Zwischenschritten, in Etappen und auf unterschiedlichsten Niveaus ermöglicht werden – ähnlich einer Fastenkur, bei der es Entlastungs- und Aufbautage gibt. Der Gast muss in der Kunst der Zeitverschwendung angeleitet werden. Denn auf Kommando zur Ruhe zu kommen, es von jetzt auf gleich gelassen anzugehen, das funktioniert nicht. Lebensveränderungen zu erwarten, wäre sicherlich übertrieben. Doch Slow Travel hat das Potenzial, den Horizont zu erweitern. Trotz oder gerade wegen der Reduktion erzeugt die neue Art des Erlebnisses ein Mehr an Inspiration, Klarheit, Fokussiertheit, Motivation, Ausgefülltsein und innerem Reichtum. 

Teilnehmen statt Zuschauen: Wer den Wunsch nach Entschleunigung hat, vermeidet auf Reisen jede Form des Durchgeschleustwerdens und eines passiv erlebten Spektakels, wie es häufig für Touristen nicht nur im Pauschal-Segment inszeniert wird. Dem Slow Traveller geht es hingegen darum, Slowness mit verschiedenen Aktivitäten verbinden.

Wohnen statt Übernachten: Instant Privacy als Slow-Strategie 

Der Erfolg von Plattformen zum Mieten privater Wohnungen und Häuser zeigt, welch starkes Bedürfnis Menschen nach individuellen Reiseerfahrungen jenseits standardisierter Angebote haben. Airbnb beispielsweise, 2008 gegründet, listet inzwischen rund zwei Mio. Inserate und vermittelt einzigartige Unterkünfte in jeder Preisklasse – in über 34.000 Städten, in über 190 Ländern, an über 60 Millionen Gäste. Couchsurfing, 2004 als kleines Projekt von Studenten in Island gestartet, ist inzwischen zum globalen Gastfreundschaftsnetzwerk mit rund 12 Millionen Mitgliedern in über 200.000 Städten angewachsen. Eine Vielzahl der Anbieter sitzt fernab von urbanen Zentren und ermöglicht so den Besuch und das Kennenlernen von Orten, die ansonsten nicht angesteuert werden. Die Popularität dieser Portale basiert auf dem Prinzip der Instant Privacy: Wohnzimmer statt Hotelzimmer ist das Motto auf der Suche nach privater Entspanntheit. 

Umfrageergebnisse zeigen auch: Es sind keineswegs nur die jungen Menschen, die moderne Peer-to-Peer-Plattformen wie Airbnb und Couchsurfing nutzen, sondern insbesondere die Altersgruppe der 35- bis 44-Jährigen. Es geht dabei eben nicht nur um eine möglichst günstige Unterkunft, sondern um die Suche nach individuellen Wohnräumen und Wohnraumerfahrungen. 

Slow Travel dient also keineswegs nur der Erholung von den Strapazen des hektischen Normalzustands, um anschließend wieder regeneriert in den Wahnsinn abzutauchen. Diese bewusstere Form des Freizeitkonsums wird vielmehr vom Wunsch nach persönlichem Wachstum getragen, das nach dem Slow-Erlebnis weiterwirkt. Es ist diese individuelle Erfahrung des Slow Travel, die die Lebensqualität des Einzelnen spürbar und nachhaltig steigert.

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