Ein Fernsehformat aus Norwegen soll unseren Alltag mit einem einfachen Trick entschleunigen – indem es unser Bewusstsein für Zeit und Detail wiederbelebt.
Von Elisa Sauerbier (11/2016)
Ein Fernsehformat aus Norwegen soll unseren Alltag mit einem einfachen Trick entschleunigen – indem es unser Bewusstsein für Zeit und Detail wiederbelebt.
Von Elisa Sauerbier (11/2016)
"Slow TV", so heißt eine neue Form des Fernsehens: ein experimentelles Format, bei dem langsam voranschreitende Prozesse in Echtzeit aufgenommen werden. Inhalte solcher Sendungen sind beispielsweise Postschiffreisen auf den Hurtigruten oder die alljährliche Rentierwanderung, die weder gekürzt noch geschnitten werden. Slow TV hat einen Unterhaltungsfaktor, der ungefähr so hoch ist als wenn man stundenlang vom Fenster aus die Straße beobachten würde – und dennoch begeistert es die Zuschauer.
Das heutige Fernsehen bietet eine Flut an Serien, Clips und Spots, die in möglichst kurzer Zeit eine möglichst große Masse ansprechen sollen. Immer mehr Menschen fühlen sich jedoch nicht unterhalten, sondern gestresst vom rasant ablaufenden Programm. Slow TV funktioniert dabei nicht nur als Kontrastprogramm zu dem stressigen Angebot der Medien – es entschleunigt auch den Alltag, indem es seine Zuschauer zwingt, in "Echtzeit" fernzusehen. Das klingt banal – und im Grunde ist es das auch, zumal Slow-Dokumentationen meist lediglich Aufnahmen malerischer Landschaften zeigen. Nicht banal ist jedoch die Tatsache, dass und warum genau diese Entschleunigung fasziniert.
Beliebte Action-Blockbuster, die fest zu unserem Fernsehprogramm gehören, etwa der 2013 erschienene James-Bond-Film "Skyfall", werden ungefähr alle 3,5 Sekunden geschnitten. Dieser Rhythmus soll Spannung, Dynamik und einen interessanten Erzählbogen erzeugen. Ein Vergleich aller Bond-Filme zeigt: Die Schnittfrequenzen haben sich rapide beschleunigt. Slow TV bricht diese medialen Muster auf, indem komplett auf hektische Schnitttechnik, aufgeregte Bildsprache und aufgesetzte Handlungen verzichtet wird. Der Handlungsverlauf ist absolut vorhersehbar und lockt nicht mit Überraschungen, Spannung oder Action, sondern schenkt dem Zuschauer Ruhe und Zeit, um auf Details zu achten und das Gesehene auf sich wirken zu lassen, während eine sanfte Moderatorenstimme durch das Programm führt.
Seine Anfänge fand das Slow TV 2009 bei dem norwegischen Sender NRK: Das Pilotprojekt zeigte eine mehrstündige Zugfahrt zwischen Bergen und Oslo, untermalt von der vertonten Geschichte der Strecke. Die Dokumentation lief zur besten Sendezeit und erzielte eine überraschende Quote: 1,2 Millionen Zuschauer schalteten ein – jeder Fünfte Einwohner Norwegens. Seitdem ist Slow TV fest im Fernsehprogramm des Landes verankert und begeistert nach wie vor durch meditative Langeweile.
Auch in Deutschland gibt es seit 2015 ein Format, das an das norwegische Slow TV anknüpft. Auf dem Bildungssender ARD alpha können Zuschauer jeden Sonntag um 20.15 Uhr in eine entschleunigte Welt eintauchen. Das Programm "Mora – gib dir echtZeit" zeigt vor allem Handwerker bei ihrer Arbeit: mal einen Uhrmacher, mal eine Schmuckdesignerin. Die einzelnen Folgen mit einer Spieldauer von circa 60 Minuten sind dabei viel kürzer als die der skandinavischen Vorbilder und bleiben zudem unkommentiert. "Mora" fasziniert vor allem durch die absolute Hingabe der Protagonisten an ihrer Arbeit. Im August 2016 nahm sogar die Streaming-Plattform Netflix elf Slow-TV-Titel ins Programm auf.
Ein ähnliches Konzept liegt dem Youtube-Kanal "My Creativity Break" zugrunde, gegründet von einem Münchener Team, das "Slow Watching" in die Büros bringen will. Die jeweils dreiminütigen Videos zeigen Serien von fünf bis sieben Bildern idyllischer Natur-Impressionen, die langsam ineinander diffundieren und mit klassischer Musik hinterlegt sind. Auch wenn die Videos der "Slow Watching"-Bewegung um einiges kürzer sind, als die Slow-TV-Programme, haben sie das gleiche Ziel. Eugen Heller, Mitbegründer des Youtube-Kanals, definiert die Plattform als einen Rückzugsort für Berufstätige mit wenig Freizeit, der entspannend und inspirierend wirken soll. Die langsamen Übergänge von Bild zu Bild bieten die Möglichkeit, sich Zeit zu nehmen, auf einzelne Details zu achten – und, ganz nach dem Slow-TV-Credo: Achtsamkeit zu schärfen.
Slow TV bietet einen Zufluchtsort im Zeitalter der Datenflut und Schnelllebigkeit. Es schult seine Zuschauer darin, achtsamer für das Zeitgeschehen zu sein und sich von authentischem und ungekürztem Geschehen faszinieren zu lassen. Es erzählt alltägliche Geschichten, die unterhalb des Medien-Mainstreams schwimmen, und macht sie zu einem Ereignis, das unsere volle Aufmerksamkeit verdient. So richtet sich der Blick weg vom Spektakulären und Inszenierten, hin zur beruhigenden Ästhetik des ganz Gewöhnlichen.