Im Zeitalter von Digitalisierung, Virtual Reality und Peak-Yoga vermittelt Boxen etwas Instinktives und Authentisches: Die raue Welt jenseits der klinischen Fitnessclubs begeistert immer mehr Frauen.
Im Zeitalter von Digitalisierung, Virtual Reality und Peak-Yoga vermittelt Boxen etwas Instinktives und Authentisches: Die raue Welt jenseits der klinischen Fitnessclubs begeistert immer mehr Frauen.
Boxen für Frauen – das ist ein Trend, bei dem ich weder erwartet hätte, je darüber zu schreiben noch selbst daran teilzunehmen. Wenn Trend- und Zukunftsforscher einen Trend sehen, wenn sie merken, dass immer mehr Menschen etwas tun, weil sie es vielleicht sogar selbst tun – sei es vegan leben, weißen Tee trinken oder Lila tragen (nichts davon trifft auf mich zu) –, dann sollte dies überprüft werden. Es gilt herauszufinden, ob es sich nicht nur um eine Projektion oder Wunschdenken handelt, sondern dass wir Teil einer Bewegung oder Pioniere einer großen, neuen, aufregenden Sache sind, von der wir alle früher oder später hören werden.
Wir suchen oft bewusst und unbewusst nach Peers, nach Anerkennung oder Bestätigung – vor allem, wenn es sich um einen etwas seltsamen Trend handelt. Dies wird als „Confirmation Bias“ (wörtlich etwa „Bestätigungs-Verzerrung“) bezeichnet. Wir tun das, weil wir Stammesangehörige sind: Wir möchten Teil von etwas Größerem, Sinnvollem sein, oder vielleicht, wie in meinem Fall, nur sicher sein, nicht etwas völlig Verrücktes getan zu haben – etwa in einen Boxclub in Wien oder in ein Frauenbox-Camp in Bad Gastein zu gehen oder auf Städtereisen Boxclubs zu besuchen (trifft alles auf mich zu).
Falls ich irgendwelche Zweifel hatte, dass sich etwas an der Wahrnehmung und Popularität von Frauenboxen veränderte, wurde ich bestätigt, als ich im Januar 2018 an Selfridges vorbei kam, Londons bekanntem Kaufhaus in der Oxford Street. Dort im Erdgeschoss befand sich ein großer und prominenter Bereich, der dem Boxen gewidmet war, zusammengestellt von einer 73-jährigen Boxerin/Künstlerin/Musikerin namens Michèle Lamy. „Lamyland“, wie es vermarktet wurde, steht für radikalen Luxus – mit Boxsäcken, die von Künstlern neu erfunden und gestaltet wurden, einer Reihe von „Designer“-Boxzubehör und -kleidung – und einem Boxring inklusive einem Trainingsplan bekannter Boxer.
Weniger glamourös, aber nicht weniger kennzeichnend für den Trend waren der Boxsack und die Handschuhe im Schaufenster des Damenwäscheladens Triumph in Wien. Und schließlich ein TV-Spot für die Shampoo-Marke Pantene von Proctor & Gamble unter dem Motto „Strong Is Beautiful“ mit der Sängerin Ellie Goulding beim Boxen.
Warum also all das Interesse, die Aufmerksamkeit, die Popularität rund ums Frauenboxen? Man könnte annehmen, dass es in erster Linie mit dem weiblichen Empowerment zu tun hat, mit der #metoo-Bewegung oder der Tatsache, dass das Frauenboxen 2012 offiziell zu einer olympischen Sportart wurde. Doch obwohl diese Faktoren dem Frauenboxen sicher neue Impulse gegeben haben, steckt weitaus mehr dahinter.
Es wird gesagt, Boxen sei nicht nur ein Sport, sondern ein Geisteszustand – den man, wie Lamy betont, „im heutigen politischen Klima als eine Metapher sehen“ kann: „Es ist ein Sport für Frauen, jedes Gewicht, jede Rasse, jedes Geschlecht und jede Herkunft.“ Die steigende Zahl der Vereine, die Kickbox- und Box-Fit-Kurse anbieten, wird von mehr Frauen als Männern und mehr jungen als älteren Frauen besucht. Diese Kurse sind laut und notorisch schnell – das Boxen dauert oft nur ein paar Minuten, und das Training ist durchsetzt mit hochintensiven Workouts am Boden, Kniebeugen mit Gewichten, herausfordernden „Burpees“ und „Planks“. Es macht nicht nur fit, sondern trainiert auch Koordination, Flexibilität, Balance und Kraft. Wie Kate Spicer vom „Sunday Times Style Magazine“ betont: „Ich mag Fitnessstudios nicht, aber ein Boxstudio ist anders – es gibt dir einen Kick, und die Männer sind echt. Es ist Schweiß, Fluchen, Folter, reines Adrenalin. Es ist erfrischend unansehnlich.“
Laut Leopold Quell, einem der Gründer des nicht über-schicken, aber dennoch einladenden Backyard Clubs in Wien, ist für viele der weiblichen Mitglieder eines der besten Dinge an ihren Box-Fit-Kursen – obwohl sie es nicht gern zugeben – das eigentliche Boxen. Der Club mit zwei Standorten ist insofern einzigartig, als er fast ausschließlich Box-Fit- und Thai-Box-Kurse anbietet. Wer wirklich im Ring „schlagen“ will, kann in die fortgeschritteneren Boxtechnikklassen einsteigen. Die Mitglieder sind zwischen 14 und 60 Jahre alt, der Großteil davon aus der Mittelschicht.
Wie also hat das Boxen seinen Ruf als raue männliche Arbeiterklassen-Aktivität abgeschüttelt und ist aus der Underground-Szene zum Mainstream-Trendsport der Mittelklasse geworden? Es ist die Tatsache, dass im Zeitalter von Digitalisierung, Virtual Reality und Peak-Yoga das Boxen etwas wunderbar Instinktives und Authentisches ist und eine Welt fernab von klinischen Fitnessclubs darstellt. Boxen ist sogar komischerweise als „achtsamer“ Sport bezeichnet worden, da man sich so sehr auf die Technik und Methode konzentrieren muss, dass man sich um nichts anderes kümmern kann (Arbeit, Einkaufslisten, Partner etc.). Und ironischerweise ist Boxen auch ein sehr sozialer Sport. Anstatt nur an einer Maschine zu arbeiten, ist man Teil einer Gruppe, mit der man interagieren muss. Und das „bad ass“-Image, das den neuen Boutique-Stil-Fitnessclubs gegenüber steht, schafft tatsächlich eine gewisse Anziehungskraft und Faszination (daher leider auch die klischeehafte und etwas lästige Neigung, dort die Musik von 50 Cent und anderen frauenfeindlichen Rappern zu spielen).
Spaß zu haben, fit zu werden und mit einer Gruppe aus vielfältigen Menschen in Kontakt zu treten, gehört auch zur Philosophie von Tim Yilmaz' Mariposa Boxing Club in München, das bereits rund 40 Prozent weibliche Mitglieder zählt. Inhaber Tim glaubt, dass die steigende Beliebtheit in den vergangenen zehn Jahren auf drei wichtigen Faktoren beruht: 1. Boxen ist anstrengend und verbrennt viel Fett, ohne große Muskeln zu bilden. 2. Boxen hat einen harten Ruf („auf der Straße“). 3. Boxen bringt eine Vielfalt von Menschen zusammen, Arme und Reich, Ungebildet und Gebildete, Kriminelle und Gesetzestreue.
Der Backyard Club in Wien hat heute sogar mehr als 50 Prozent weibliche Mitglieder. Die Tatsache, dass der Frauen-Umkleideraum im ersten der zwei Club-Standorte weniger als halb so groß ist wie der Raum der Männer zeugt davon, dass dieser Trend viele Menschen überrascht hat. Mich selbst eingeschlossen.