Synnovation: Die Innovation von morgen

Was muss passieren, damit „Ideen Sex haben“ können, wie es Matt Ridley nennt? Ein Blick in die Zukunft der Innovation – zwischen inszenierter Störung und gesteuertem Zufall.

Von Matthias Horx und Holm Friebe (12/2015)

Nach Bill Burnett, Professor und Innovationsforscher in Stanford, entwickelte sich neues Wissen in drei verschiedenen Stufen über die Menschheitsgeschichte: Viele Jahrtausende akkumulierte sich Wissen durch das Prinzip der Entdeckung – Menschen entdeckten Kontinente, Techniken, Methoden, Tricks, weil sie durch Zufälle, Glück oder Schlauheit „darüber stolperten“. In der Ära der wissenschaftlichen Aufklärung wechselte die Wissensmethode zum Experiment: Von nun an waren es experimentelle „Settings“, die Wissen gezielt und kontrolliert vorantrieben. Doch auch diese Methode hat sich heute erschöpft, weil die meisten Experimente dazu tendieren, Antworten auf längst bekannte Fragen zu formulieren.

Die eigentliche Problematik besteht in der Generierung neuer Fragestellungen. Die Antworten hierauf findet man vor allem durch neue, syntheseorientierte Innovationsmethoden wie „Cross Innovation“ (die Verknüpfung bekannter, aber bislang getrennter Wissenselemente), „Open Innovation“ (die Ideenentwicklung in multidisziplinären Ökosystemen) oder „Design Thinking“. Die dritte große Epoche der Menschheitsgeschichte ist angebrochen, die Ära der Synthese.

Kreativer Zufall statt starrer Prozesse

Der Druck für Unternehmen, sich in diese Richtung zu bewegen, entspringt den globalen Me-too-Märkten, die bei wachsender Konnektivität alte Muster immer weniger durchsetzungsfähig machen. Innovationen wurden zu lange durch den Tunnelblick der Experten betrachtet – eine Erklärungsfromel dafür ist das „Groupthink“-Phänomen: die Konformität des Denkens in homogenen Gruppen als Folge einer zentralistischen Organisationsstruktur.

Das Neue entsteht deshalb an den nicht-zentralistischen Rändern: Kreative Ökosysteme und Biotope bringen neue Formen von Innovationen hervor, die anders funktionieren als die Innovationen von gestern. Und oft hat bei ungeplanten Innovationen auch der Zufall seine Hand im Spiel. Dieser Paradigmenwechsel von starren Prozessen hin zu einem Zulassen des Zufälligen, lässt sich als “Synnovation” beschreiben: die Form, in der das Neue in die Welt kommt.

Betrachten wir Innovation einmal nicht als technischen, sondern als kulturellen Prozess: Wie verändern sich dann im Moment die „Umweltbedingungen“, unter denen Innovation stattfindet – und was können wir daraus für ihre Zukunft schließen?

Im Moment der Rückschau lassen sich eindeutige Muster erkennen, die die Notwendigkeit zum Wandel nahelegen:

  • Beschleunigung war das Thema der aufbrechenden Industriegesellschaft: Vor 100 Jahren, zum Peak der mechanischen Erfindungen, ging es um den Übergang von der statischen Kultur der Agrarwelt zu einer beschleunigten Industriewelt. Dieser Prozess ist heute weitgehend abgeschlossen. Mit der Etablierung des globalen Flugverkehrs, der „Totalmobilisierung“ des Autos und dem Internet verliert der beschleunigende Impuls seine Kraft. Wir können heute in absehbarer Zeit zu jedem Punkt des Planeten reisen und Informationen in Echtzeit abrufen. Aber was fangen wir mit diesen Möglichkeiten an? Immer mehr geht es heute um Entschleunigung, Autonomie und Segregation, um „erhaltende“ statt „überschreitende“ Techniken. Oder wie es Peter Sloterdijk nennt: um „Anthropotechniken“.
  • Eine alternde und feminisierte Gesellschaft stellt die Weichen anders: Akzelerative Technologie ist immer „jung“, sie lebt von der Idee der Grenzüberschreitung, von Wagnis und Risiko. Beschleunigungsinnovation ist deshalb gleichzeitig immer auch sehr männlich – sie träumt von Weltbeherrschung, Macht und Kontrolle. Die Weltraumfahrt etwa war mit der Vision von „jungen Kerlen“ verbunden, die ihr Leben an der „letzten Grenze“ riskierten. Alternde Gesellschaften, wie sie inzwischen die Weltkultur dominieren, neigen eher zu geringen Risiken. Und wenn Frauen mehr und mehr Bildung, Einfluss und Einkommen haben, verändern sich die kulturellen Zukunftsbilder von Überschreitung zu Bewahrung. Außerdem wandern heute viele Abenteuer in den virtuellen Sektor ab: Wozu in den Weltraum aufbrechen, wenn eine Echtzeit-Simulation im Videospiel möglich ist, ohne das eigene Leben aufs Spiel zu setzen?
  • Akzelerative Techniken waren in sehr hohem Maße kriegsbedingt: Unsere heutigen Grundtechnologien sind fast alle im Kontext militärischer Interessen und Investitionen entstanden. Die Computerentwicklung bekam ihre entscheidenden Impulse durch die Dechiffrierungstechnik und die Berechnung von Ballistikproblemen. Strahltriebwerke, die heute jedes Flugzeug antreiben, wurden im Zweiten Weltkrieg erfunden. Das Mondprogramm der Amerikaner wäre ohne den Kalten Krieg niemals finanziert worden. Melancholisch könnte man formulieren: Wenn die Welt friedlicher wird, muss dies auch den technischen Fortschritt bremsen. Denn die wirklichen Motivationen für Risiken sind immer existentielle Herausforderungen auf Leben und Tod.
  • Technische Entwicklung unterliegt einem Wellensystem: Womöglich verbergen sich hinter der Entschleunigung des innovativen Fortschrittes auch evolutionäre Gesetze. Das Gesetz des „Punctuated Equilibrium“ besagt, dass eine lange Phase der Stabilität in der Naturentwicklung von schnellen Ausbrüchen der Artenvielfalt gefolgt wird. Übertragen auf die Technologie hieße das: Innovationszyklen entstehen eher als „Burst“-Phasen. Auf Phasen der vermehrten Innovationen, wie etwa um 1900 (Telefon, Auto, Flugzeug, Telegraf, Funk) oder in den 1960er Jahren (Computer, Rakete etc.), folgen immer Phasen der Rekonstitution. Auf eine solche steuern wir gerade zu.

The New Nature of Innovation

Natürlich bedeutet all das nicht, dass es keine Innovationen mehr gibt. Verbesserungen, Verfeinerungen, graduelle Veränderungen finden jeden Tag statt. Aber das ist es ja gerade: Inkrementelle Innovationen, kleine und kontinuierliche Verbesserungen ersetzen den utopischen Charakter der technologischen „Breakthrough“-Innovativen. Der Blick richtet sich weg von den Männern in weißen Kitteln, die in ihren Laboren fieberhaft am nächsten Durchbruch arbeiten, hin zu den Rändern, den kreativen Brackwasserzonen zwischen Branchen und Disziplinen, wo durch Austausch und wechselseitige Befruchtung schleichend und oft unbemerkt bahnbrechend Neues entsteht.

Nach klassischem Verständnis beruhen Innovationen auf wissenschaftlicher Grundlagenforschung, deren Ergebnisse sich in neuen Materialien, technologischen Verfahren, medizinischen Präparaten etc. niederschlagen, die durch Patente wirtschaftlich verwertet werden. In den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Unternehmen und Konzernen entstehen auf dieser Basis in einem zumeist langjährigen und aufwändigen Entwicklungsprozess, auch Innovationspipeline genannt, marktfähige Produkte. Gerade in Deutschland hat diese stark von klassischen Ingenieurstugenden geprägte Art, Innovation zu organisieren, viele Anhänger. Die große Zahl technologischer Weltmarktführer und Hidden Champions im Business-to-Business- und Exportmarkt zeigt an, dass sie keineswegs obsolet ist. Allerdings produziert dieses Modell oft akribisch am Markt vorbei, wo es auf gesättigte Märkte, hochvolatile Marktumfelder und launische Endkonsumenten trifft. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die stillgelegte Mobilfunksparte von Siemens: Die von Ingenieuren als beste Handys der Welt gelobten Geräte wurden letztlich von den Konsumenten verschmäht.

Nicht zuletzt deshalb zeichnet sich ein Umdenken in Richtung Synnovation ab, wobei versucht wird, den Innovationsprozess selbst innovativ zu denken: weg von der abgeschotteten Insellösung, die in den Forschungssilos ausgebrütet wird, hin zu offenen und kollaborativen Multi-Stakeholder-Prozessen, bei denen nicht nur frühzeitig die Kundenperspektive ins Spiel kommt, sondern auch das Wissen anderer Branchen und Wissensdisziplinen an einem Tisch versammelt wird.

Der OECD-Report „The New Nature of Innovation“ schlug bereits 2008 einen erweiterten Innovationsbegriff vor, wonach Innovation auch außerhalb von High-Tech-Firmen und F&E-Abteilungen stattfindet und Bereiche wie Service oder die Organisation einschließt. Als wichtigste Quellen und Treiber von Innovationen werden in neun „Innovation Principles“ unter anderem die Kunden und User, die natürliche Umwelt, Entwicklungs- und Schwellenländer sowie der Wohlfahrtssektor identifiziert. Zudem listet der Report etliche Beispiele auf, wie auf offenen Entwicklungsplattformen unter Einbeziehung von Kunden, Zulieferern und Wettbewerbern Open Innovation praktiziert und das berüchtigte „Not invented here“-Syndrom überwunden wird. Open Innovation ist dabei nur der Sammelbegriff für ein ganzes Set neuer Methoden und Ansätze, die den Werkzeugkoffer der Synnovation füllen.

Vom Innovationsmanagement zur Synnovation

Synnovation benennt also eine neue Kultur der Innovation, in der „das Neue“ nicht mehr primär aus einer Beschleunigungs-, Kontroll- oder Überwindungsphantasie entsteht. Innovation verliert ihre technozentrische Ausrichtung. An die Stelle „ingenieurischer“ Innovation tritt eine systemische Innovationskunst, die mehrschichtig und multidimensional angelegt ist.

Innovationen beziehen ihren „genialischen“ Moment nun aus der Synthese, aus der schöpferischen Re-Kombination bereits vorhandener Elemente, die intelligent auf neue Nutzungen angewandt werden. Über die Loslösung von der planbaren Erfindungsfertigung im Stile eines Innovationsfließbandes – bezeichnenderweise hieß das Prinzip in großen F&E-orientierten Organisationen „Pipeline“ – entstehen so auch ganz neue und hochspannende Möglichkeiten, um ungenutzten Potenzialen oder sogar dem Zufall selbst eine Chance zu geben – und Antworten auf Fragen zu liefern, die so noch nie gestellt wurden.

Ein immer häufiger genanntes Stichwort in diesem Zusammenhang ist der Begriff „Serendipity“. Er kommt aus dem Amerikanischen und beschreibt das Glück der unerwarteten Entdeckung. Für die zukünftige Innovationsentwicklung wird das Fördern von „glücklichen Zufällen“ von zentraler Bedeutung.

Serendipity: Synnovations-Motor

Dem Märchen nach waren es drei Prinzen in Serendip, dem heutigen Sri Lanka, die auf ihren Reisen eine Reihe von unerwarteten Entdeckungen machten. Der britische Autor Horace Walport kreierte daraus Mitte des 18 Jahrhunderts in einem Brief das Wort Serendipity für „zufälligen Glücksfund“, das der amerikanische Soziologe Robert K. Merton Mitte des 20. Jahrhunderts für die Wissenschaft fruchtbar machte, indem er die Bedeutung von Serendipity für wissenschaftliche Entdeckungen hervorhob. Die Liste solcher Zufallsfunde ist lang, fast könnte man meinen, der Fortschritt bestehe mehr aus glücklichen Zufällen als aus systematischem Forschen.

Die wörtliche Übersetzung von Serendipity müsste wohl lauten: finden ohne zu suchen. Aber so ganz trifft das nicht zu. Merton verweist darauf, dass der Zufall oft denjenigen beispringt, die systematisch an etwas forschen und ihre Sensoren auf Empfang gestellt haben. So geschehen etwa bei Alexander Fleming, der 1928 im St. Mary’s Hospital in London auf der Suche nach einer wirksamen Methode zur Bekämpfung von Staphylokokken war und Objektträger mit dem Erreger präpariert hatte. Der Zufall kam ihm zu Hilfe in Form von Unreinheit im Labor. Als ein Schimmelpilz die Agarplatte befiel und rund herum die Staphylokokken abstarben, war das Penicillin erfunden.

Ähnlich könnte man die Entdeckung Amerikas beschreiben: Immerhin musste Kolumbus für die Entdeckung Amerikas schon einmal aufgebrochen sein, um etwas zu finden – nämlich den Seeweg nach Indien. Der Zufall lässt sich nicht planen. Aber eine Mischung aus beherztem Losmarschieren in eine Richtung und gleichzeitig offen und empfänglich bleiben für das, was sich am Wegesrand abzeichnet, begünstigt ihn offenbar.

Eine zweite Quelle zufälliger Innovationen sind produktive Missverständnisse: Beim Empfänger kommt etwas anderes an als das, was der Sender intendiert hatte – und dieses Andere birgt die Innovation. Bestes Beispiel dafür ist die Entdeckung des Teebeutels. Um beim Übersee-Versand von Teeproben Gewicht und Porto einzusparen, füllte der Teehändler Thomas Sullivan 1904 seine Ware statt wie üblich in Blechdosen in kleine Seidenbeutel. Die Kunden verstanden dies als Aufforderung, den Tee samt Verpackung in heißes Wasser einzutauchen und sich so das lästige Abseihen des Tees zu ersparen. Konkurrenten beobachteten das und kopierten Sullivans „Erfindung“ – so kam der Beuteltee in die Welt.

Ein weiterer Erfolgsfaktor, der den Zufallstreffer ermöglicht, ist schlicht die breite Streuung. Wie Gott zu David sagt, der sich lauthals darüber beschwert, dass er nie im Lotto gewinnt: „Bitte gib mir eine Chance, kauf Dir ein Los!“ Wer mehrere Lose kauft, vergrößert seine Chancen. Kreativbranchen wie der Musik- oder Buchmarkt sind traditionell von extrem niedrigen Erfolgsquoten bei großer Unvorhersagbarkeit gekennzeichnet – im Fachjargon „Hit Driven Business“. In diesen Sektoren führt auch im Zeitalter des „Long Tail“ kein Weg daran vorbei, nach der Methode Schrotflinte breit zu feuern und mit den wenigen Hits die vielen Flops zu subventionieren. Ein aus dem Nichts kommender „Harry Potter“ finanziert ein ganzes Verlagsprogramm auf Jahre hinaus. Selbst McKinsey hat bislang keine Methode gefunden, die „Freak Sells“, wie solche Mega-Erfolge in Anlehnung an die unvorhersehbaren „Freak Waves“ der Ozeane genannt werden, vorherzusagen, geschweige denn planbar zu machen.

Ähnliche Unvorhersagbarkeit herrscht bei Startups, denen man im Entwicklungsstadium nicht ansieht, welches „das nächste Facebook“ werden könnte. Bei Risikokapitalgebern heißt die Devise deshalb: „Spray & Pray“ – das Geld breit streuen, dann hoffen und beten. Diese Planung des Zufalls ist jedoch alles andere als zufällig. Nicht umsonst sind manche Venture Capitalists erfolgreicher als andere. Und nicht umsonst sind manche Unternehmen innovativer als andere. Organisationen können in Zukunft zwar nicht mehr so einfach ihre Innovationspipeline befüllen, um erfolgreich zu innovieren. Aber sie können bzw. müssen ein Klima erzeugen, das wissenschaftliche und wirtschaftliche Zufallsinnovationen befördert.

Innovation braucht Kultur

Das berührt viele Dimensionen – angefangen bei der Architektur. Können sich Menschen im Unternehmen überhaupt zufällig begegnen oder verlassen sie niemals die Silos ihrer “Ab-Teilungen”? Tom Allen, Professor für Organisationspsychologie an der Sloan School of Management des MIT, konnte in seinen Forschungen nachweisen, dass die Wahrscheinlichkeit der wöchentlichen Kommunikation zwischen zwei Mitarbeitern auf unter zehn Prozent sinkt, sobald diese räumlich mehr als 20 Meter voneinander entfernt sind.

Räumliche Nähe von Menschen hilft, dem Zufall eine Chance zu geben. Legendär in dem Zusammenhang ist das Building 20 am MIT, ein temporärer hölzerner Barackenbau, der 55 Jahre lang als Ausweichquartier und dauerhaftes Provisorium diente, bevor das Gebäude 1998 endgültig abgerissen wurde. Die drangvolle Enge und die Interdisziplinarität führte dazu, dass Building 20 ein enorm produktiver Inkubator für neue Ideen wurde.

Wenn Studien belegen, dass Forschungsteams dann am produktivsten sind, wenn sie in dichter räumlicher Nähe arbeiten, wirft dies auch neue Fragen zur Telearbeit auf. Menschen schätzen die Freiheit, über Ort und Zeit ihrer Arbeit frei zu bestimmen. Doch geht diese Freiheit womöglich zu Lasten der Innovation? Der dänische Hörgerätehersteller Oticon, das weltweit innovativste Unternehmen der Branche, pflegt experimentelle Strukturen (Stichwort “Spaghetti-Organisation”) – und verlangt von seinen Mitarbeitern, täglich ins Büro zu kommen. Wie lange man dann aber bleibt, ist dabei egal. Mit dieser Regel soll die zufällige Innovation durch die zufällige Begegnung von Menschen möglich gemacht werden.

Der Zufall kennt viele Wege, und so werden Unternehmen den für sie besten Weg finden müssen. Siemens beispielsweise erprobte ein Innovationsroulette: Man würfelt jene Ideen aus, die weiterverfolgt werden sollen. Was sich wie Glücksspiel anhört, folgt einer Strategie. In Innovationsprozessen gibt es immer drei Klassen von Ideen: solche, die sofort aussortiert werden können. Solche, die man definitiv weiterverfolgen möchte. Und solche, von denen man nicht so recht weiß, ob doch etwas hinter ihnen steckt. Aus diesem letzteren, unentschiedenen Segment wird eine Idee ausgewürfelt, um dem Zufall eine Chance zu geben.  

Fest steht jedoch, dass Organisationen künftig Serendipity in ihre Prozesse und Strukturen einweben müssen, um – wie Nassim Taleb („The Black Swan“) es so schön formuliert – „positive schwarze Schwäne“ zu erzeugen: „Entgegen den gängigen Annahmen im Bereich der Sozialwissenschaften gibt es kaum eine bemerkenswerte Entdeckung oder Technologie, die aus Absicht und Planung resultierte. Die weitaus meisten waren schlicht Schwarze Schwäne. Entdecker und Unternehmer sollten bei ihrer Strategie daher weniger auf Top-down-Planung setzen, sondern sich auf maximales Herumprobieren und das Erkennen der Chancen, die sich ihnen bieten, konzentrieren.“

Vom Innovationsmanagement zur Synnovation

Synnovation benennt also eine neue Kultur der Innovation, in der „das Neue“ nicht mehr primär aus einer Beschleunigungs-, Kontroll- oder Überwindungsphantasie entsteht. Innovation verliert ihre technozentrische Ausrichtung. An die Stelle „ingenieurischer“ Innovation tritt eine systemische Innovationskunst, die mehrschichtig und multidimensional angelegt ist.

Innovationen beziehen ihren „genialischen“ Moment nun aus der Synthese, aus der schöpferischen Re-Kombination bereits vorhandener Elemente, die intelligent auf neue Nutzungen angewandt werden. Über die Loslösung von der planbaren Erfindungsfertigung im Stile eines Innovationsfließbandes – bezeichnenderweise hieß das Prinzip in großen F&E-orientierten Organisationen „Pipeline“ – entstehen so auch ganz neue und hochspannende Möglichkeiten, um ungenutzten Potenzialen oder sogar dem Zufall selbst eine Chance zu geben – und Antworten auf Fragen zu liefern, die so noch nie gestellt wurden.

Ein immer häufiger genanntes Stichwort in diesem Zusammenhang ist der Begriff „Serendipity“. Er kommt aus dem Amerikanischen und beschreibt das Glück der unerwarteten Entdeckung. Für die zukünftige Innovationsentwicklung wird das Fördern von „glücklichen Zufällen“ von zentraler Bedeutung.

Serendipity: Synnovations-Motor

Dem Märchen nach waren es drei Prinzen in Serendip, dem heutigen Sri Lanka, die auf ihren Reisen eine Reihe von unerwarteten Entdeckungen machten. Der britische Autor Horace Walport kreierte daraus Mitte des 18 Jahrhunderts in einem Brief das Wort Serendipity für „zufälligen Glücksfund“, das der amerikanische Soziologe Robert K. Merton Mitte des 20. Jahrhunderts für die Wissenschaft fruchtbar machte, indem er die Bedeutung von Serendipity für wissenschaftliche Entdeckungen hervorhob. Die Liste solcher Zufallsfunde ist lang, fast könnte man meinen, der Fortschritt bestehe mehr aus glücklichen Zufällen als aus systematischem Forschen.

Die wörtliche Übersetzung von Serendipity müsste wohl lauten: finden ohne zu suchen. Aber so ganz trifft das nicht zu. Merton verweist darauf, dass der Zufall oft denjenigen beispringt, die systematisch an etwas forschen und ihre Sensoren auf Empfang gestellt haben. So geschehen etwa bei Alexander Fleming, der 1928 im St. Mary’s Hospital in London auf der Suche nach einer wirksamen Methode zur Bekämpfung von Staphylokokken war und Objektträger mit dem Erreger präpariert hatte. Der Zufall kam ihm zu Hilfe in Form von Unreinheit im Labor. Als ein Schimmelpilz die Agarplatte befiel und rund herum die Staphylokokken abstarben, war das Penicillin erfunden.

Ähnlich könnte man die Entdeckung Amerikas beschreiben: Immerhin musste Kolumbus für die Entdeckung Amerikas schon einmal aufgebrochen sein, um etwas zu finden – nämlich den Seeweg nach Indien. Der Zufall lässt sich nicht planen. Aber eine Mischung aus beherztem Losmarschieren in eine Richtung und gleichzeitig offen und empfänglich bleiben für das, was sich am Wegesrand abzeichnet, begünstigt ihn offenbar.

Eine zweite Quelle zufälliger Innovationen sind produktive Missverständnisse: Beim Empfänger kommt etwas anderes an als das, was der Sender intendiert hatte – und dieses Andere birgt die Innovation. Bestes Beispiel dafür ist die Entdeckung des Teebeutels. Um beim Übersee-Versand von Teeproben Gewicht und Porto einzusparen, füllte der Teehändler Thomas Sullivan 1904 seine Ware statt wie üblich in Blechdosen in kleine Seidenbeutel. Die Kunden verstanden dies als Aufforderung, den Tee samt Verpackung in heißes Wasser einzutauchen und sich so das lästige Abseihen des Tees zu ersparen. Konkurrenten beobachteten das und kopierten Sullivans „Erfindung“ – so kam der Beuteltee in die Welt.

Ein weiterer Erfolgsfaktor, der den Zufallstreffer ermöglicht, ist schlicht die breite Streuung. Wie Gott zu David sagt, der sich lauthals darüber beschwert, dass er nie im Lotto gewinnt: „Bitte gib mir eine Chance, kauf Dir ein Los!“ Wer mehrere Lose kauft, vergrößert seine Chancen. Kreativbranchen wie der Musik- oder Buchmarkt sind traditionell von extrem niedrigen Erfolgsquoten bei großer Unvorhersagbarkeit gekennzeichnet – im Fachjargon „Hit Driven Business“. In diesen Sektoren führt auch im Zeitalter des „Long Tail“ kein Weg daran vorbei, nach der Methode Schrotflinte breit zu feuern und mit den wenigen Hits die vielen Flops zu subventionieren. Ein aus dem Nichts kommender „Harry Potter“ finanziert ein ganzes Verlagsprogramm auf Jahre hinaus. Selbst McKinsey hat bislang keine Methode gefunden, die „Freak Sells“, wie solche Mega-Erfolge in Anlehnung an die unvorhersehbaren „Freak Waves“ der Ozeane genannt werden, vorherzusagen, geschweige denn planbar zu machen.

Ähnliche Unvorhersagbarkeit herrscht bei Startups, denen man im Entwicklungsstadium nicht ansieht, welches „das nächste Facebook“ werden könnte. Bei Risikokapitalgebern heißt die Devise deshalb: „Spray & Pray“ – das Geld breit streuen, dann hoffen und beten. Diese Planung des Zufalls ist jedoch alles andere als zufällig. Nicht umsonst sind manche Venture Capitalists erfolgreicher als andere. Und nicht umsonst sind manche Unternehmen innovativer als andere. Organisationen können in Zukunft zwar nicht mehr so einfach ihre Innovationspipeline befüllen, um erfolgreich zu innovieren. Aber sie können bzw. müssen ein Klima erzeugen, das wissenschaftliche und wirtschaftliche Zufallsinnovationen befördert.

Innovation braucht Kultur

Das berührt viele Dimensionen – angefangen bei der Architektur. Können sich Menschen im Unternehmen überhaupt zufällig begegnen oder verlassen sie niemals die Silos ihrer “Ab-Teilungen”? Tom Allen, Professor für Organisationspsychologie an der Sloan School of Management des MIT, konnte in seinen Forschungen nachweisen, dass die Wahrscheinlichkeit der wöchentlichen Kommunikation zwischen zwei Mitarbeitern auf unter zehn Prozent sinkt, sobald diese räumlich mehr als 20 Meter voneinander entfernt sind.

Räumliche Nähe von Menschen hilft, dem Zufall eine Chance zu geben. Legendär in dem Zusammenhang ist das Building 20 am MIT, ein temporärer hölzerner Barackenbau, der 55 Jahre lang als Ausweichquartier und dauerhaftes Provisorium diente, bevor das Gebäude 1998 endgültig abgerissen wurde. Die drangvolle Enge und die Interdisziplinarität führte dazu, dass Building 20 ein enorm produktiver Inkubator für neue Ideen wurde.

Wenn Studien belegen, dass Forschungsteams dann am produktivsten sind, wenn sie in dichter räumlicher Nähe arbeiten, wirft dies auch neue Fragen zur Telearbeit auf. Menschen schätzen die Freiheit, über Ort und Zeit ihrer Arbeit frei zu bestimmen. Doch geht diese Freiheit womöglich zu Lasten der Innovation? Der dänische Hörgerätehersteller Oticon, das weltweit innovativste Unternehmen der Branche, pflegt experimentelle Strukturen (Stichwort “Spaghetti-Organisation”) – und verlangt von seinen Mitarbeitern, täglich ins Büro zu kommen. Wie lange man dann aber bleibt, ist dabei egal. Mit dieser Regel soll die zufällige Innovation durch die zufällige Begegnung von Menschen möglich gemacht werden.

Der Zufall kennt viele Wege, und so werden Unternehmen den für sie besten Weg finden müssen. Siemens beispielsweise erprobte ein Innovationsroulette: Man würfelt jene Ideen aus, die weiterverfolgt werden sollen. Was sich wie Glücksspiel anhört, folgt einer Strategie. In Innovationsprozessen gibt es immer drei Klassen von Ideen: solche, die sofort aussortiert werden können. Solche, die man definitiv weiterverfolgen möchte. Und solche, von denen man nicht so recht weiß, ob doch etwas hinter ihnen steckt. Aus diesem letzteren, unentschiedenen Segment wird eine Idee ausgewürfelt, um dem Zufall eine Chance zu geben.  

Fest steht jedoch, dass Organisationen künftig Serendipity in ihre Prozesse und Strukturen einweben müssen, um – wie Nassim Taleb („The Black Swan“) es so schön formuliert – „positive schwarze Schwäne“ zu erzeugen: „Entgegen den gängigen Annahmen im Bereich der Sozialwissenschaften gibt es kaum eine bemerkenswerte Entdeckung oder Technologie, die aus Absicht und Planung resultierte. Die weitaus meisten waren schlicht Schwarze Schwäne. Entdecker und Unternehmer sollten bei ihrer Strategie daher weniger auf Top-down-Planung setzen, sondern sich auf maximales Herumprobieren und das Erkennen der Chancen, die sich ihnen bieten, konzentrieren.“

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