KI: Der nächste Winter kommt bestimmt

Worüber sprechen wir überhaupt, wenn wir von „Künstlicher Intelligenz“ reden – und welche Potenziale kann KI in Zukunft entfalten? Ein Beitrag von Felix Heimbrecht, Senior Director Technology bei Publicis Sapient.

In der breiten Öffentlichkeit herrscht noch immer ein sehr diffuses Bild darüber, was KI-Technologien eigentlich sind – und was sie tatsächlich können. Schon der Begriff „Künstliche Intelligenz“ weckt schnell falsche Assoziationen, bis hin zu Grusel-Szenarien à la „Terminator“ oder „iRobot“. Tatsächlich aber geht es bei KI um etwas, das weniger „sexy“ erscheint: um rudimentäre Lernverfahren für Computer – „Maschinelles Lernen“ (ML).

Selbst dieser Begriff ist aber noch irreführend, denn ML hat wenig gemein mit dem Lernen, wie wir es kennen. Menschen sind in der Lage, schnell und mit nur relativ wenigen signifikanten Beispielen Zusammenhänge zu verstehen und auf Basis des entstandenen mentalen Modells logische Schlussfolgerungen zu ziehen. Maschinen können das nicht. Die aktuellen Verfahren brauchen endlose Mengen von Beispielen in hoher Qualität, die zudem möglichst viele Fälle abdecken und abertausende Male wiederholt werden müssen, um brauchbare Ergebnisse zu erzielen. Und selbst dann ist kein inhaltliches Verständnis entstanden, sondern nur eine mathematische Näherungsfunktion, die Eingaben auf Ausgaben abbildet. Mit Intelligenz hat das nichts zu tun.

Die Möglichkeiten des Maschinellen Lernens

Zweifelsohne wurden mit ML in den vergangenen Jahren erstaunliche Fortschritte erzielt und Probleme geknackt, die jahrzehntelang algorithmisch nicht gelöst werden konnten. Andererseits sind die verwendeten Verfahren im Kern schon Jahrzehnte bekannt und nur aufgrund ihres Rechen- und Speicherhungers erst jetzt wirklich praktikabel:

  • Überwachtes Lernen (Supervised Learning) ist das am häufigsten und erfolgreichsten angewandte Verfahren. Hierbei bekommt ein System immer und immer wieder Datenpaare präsentiert, bestehend aus der Eingabe und dem gewünschten Ergebnis. Die Hauptanwendungsgebiete sind Klassifikation und Regression. So existieren bereits Systeme, die beliebige Objekte und Lebewesen auf Bildern oder in Videos und sogar konkrete Personen und deren Emotionen erkennen können. Auch in medizintechnischen Anwendungen kommen so trainierte KIs zum Einsatz, indem sie etwa Röntgenbilder auf Hinweise zu versteckten Tumoren analysieren. Ähnliches gilt für die Sprachverarbeitung, z. B. in Bezug auf die Spracherkennung und -erzeugung sowie die Analyse von Texten.
  • Unüberwachtes Lernen (Unsupervised Learning) verwendet im Unterschied zum überwachten Lernen keine zusammengehörigen Datenpaare, sondern pure Eingabedaten zum Training, die häufig in großen Mengen verfügbar sind, z. B. Warenkörbe im E-Commerce. Dementsprechend ist auch die Art der lösbaren Probleme eine andere: Es geht vorwiegend um Clustering, Dimensionsreduktion und die Erkennung von Anomalien. Die zurzeit wohl spektakulärste Anwendung von unüberwachtem Lernen ist die Erzeugung von künstlichen Inhalten. Dazu werden zwei Systeme kombiniert, wobei das erste etwas erzeugt (der Generator) und das zweite das Ergebnis bewertet (der Diskriminator) und entsprechendes Feedback rückkoppelt. Ist der Diskriminator z. B. mit Supervised Learning darauf trainiert, Landschaften zu erkennen, kann der Generator lernen, aus Zufallseingaben Bilder von Landschaften zu erzeugen. Diese Generative Adversarial Networks (GANs) funktionieren so erstaunlich gut, dass man keinem Bild oder Video mehr trauen kann (Stichwort Deepfakes).
  • Verstärkendes Lernen (Reinforcement Learning) geht in eine ähnliche Richtung wie GANs: Ein System wird nicht direkt mit den korrekten Ergebnissen vortrainiert, sondern lernt vielmehr im Betrieb, die richtigen Entscheidungen zu treffen, auf Basis von positiven oder negativen Feedbacks. Trotz einiger beeindruckender Beispiele wie selbstlernender Computerspiel-Simulatoren (z. B. AlphaStar) oder Anwendungen zur Vorhersage der Proteinfaltung für die Entwicklung neuer Medikamente (z. B. AlphaFold) steht Reinforcement Learning im Vergleich zu den beiden anderen Ansätzen noch ganz am Anfang. Anwendbar ist dieses Verfahren auf Probleme, bei denen eine kontinuierliche Steuerung erforderlich ist und für die man Ergebnisse in sinnvoller Form unmittelbar auf einer Skala bewerten kann – was sich häufig als schwierig herausstellt.

Die Revolution der Roboter fällt aus – wieder einmal

Die skizzierten Verfahren und Anwendungsmöglichkeiten zeigen, dass ein erstaunlicher Werkzeugkasten entstanden ist, der zu völlig neuen Möglichkeiten in so unterschiedlichen Bereichen wie Automatisierung und Mensch-Maschine-Schnittstellen führt. Nüchtern betrachtet basieren diese Möglichkeiten allerdings auf der Erweiterung von altbekannten Ansätzen in Kombination mit der Verfügbarkeit schierer Rechenpower und Speicherkapazität. Im Moment deutet wenig darauf hin, dass über eine weitere inkrementelle Verbesserung dieser Verfahren hinaus ein Quantensprung in Richtung Intelligenz bevorsteht – der auch für vollautonome Fahrzeuge noch erforderlich wäre. 

Ähnlich wie im „KI-Winter“ Ende der 1960er- und 1980er-Jahre, als die vielversprechenden Entwicklungen in den KI-Labors sang- und klanglos an der praktischen Anwendung in der Realität scheiterten, besteht wieder einmal eine große Diskrepanz zwischen den Erwartungen an diese Technologien und ihren tatsächlichen Fähigkeiten. KI wird unser Leben erheblich verändern, doch eine Revolution der Roboter ist nicht zu befürchten. Dazu bräuchte es nicht nur wesentliche Fortschritte im Machine Learning, sondern auch in vielen anderen Gebieten der KI – die nicht in Sicht sind. Willkommen im nächsten KI-Winter.

Über den Autor

Felix Heimbrecht ist Senior Director Technology bei Publicis Sapient. Der Experte für die Konzeption und Implementierung digitaler Services hat langjährige Erfahrungen im Bereich Produkt- und Serviceinnovation und eine besondere Leidenschaft für Rapid Prototyping.

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