Nudging durch KI: Der sanfte große Bruder

Die Kombination aus Künstlicher Intelligenz und Verhaltensökonomik treibt digitales Nudging in Wirtschaft und Gesellschaft exponentiell voran – dafür braucht es in Zukunft Entscheidungsarchitekten. – Ein Beitrag von Prof. Dirk Nicolas Wagner, Professor für Strategisches Management an der Karlshochschule International University.

© Unsplash/Bench Accounting

Was verbindet den Blick auf den Schrittzähler des Smartphones, um das eigene Bewegungsvolumen zu checken, mit der Frage des Computers, ob man die am Abend formulierte Nachricht nicht lieber am nächsten Morgen zu den üblichen Arbeitszeiten schicken möchte? Beides sind Vorboten einer lawinenartig über uns hereinbrechenden Veränderung, die vor allem im beruflichen Bereich das Zusammenspiel von Mensch und Maschine fundamental verändern wird: digitales Nudging, das „Anstupsen“ menschlicher Entscheidungen mit Hilfe von Software.

Das Ziel ist klar: Es geht darum, Menschen sanft in bestimmte Richtungen zu lenken, ohne direkte Instruktionen oder grundsätzliche Einschränkungen der individuellen Entscheidungsfreiheit. Die inzwischen auch im Deutschen „Nudge“ genannten Stupser können die Adressaten prinzipiell über alle denkbaren Kanäle erreichen, von E-Mails und Apps bis zu firmeninterner Software oder Social Media. Im Hintergrund wirkt dabei zunehmend Künstliche Intelligenz (KI).

Soziale Innovationen …

Die bahnbrechende Wirkung von digitalem Nudging basiert auf der Kombination einer sozialwissenschaftlichen und einer technischen Innovation der vergangenen Jahre. Die soziale Innovation beruht auf Erkenntnissen der Verhaltensökonomik, die durch populäre Bücher (etwa von Richard Thaler und Cass Sunstein, Daniel Kahneman oder Dan Ariely) schnell in Politik und Wirtschaft Verbreitung fanden. Zentral ist hier die Einsicht, dass der Mensch kein Homo oeconomicus ist, der sich immer rational verhält: Vielmehr folgen wir bei Entscheidungen überwiegend unserem Bauchgefühl und einfachen Faustregeln – weil das schneller und oft auch richtig (oder zumindest gut genug) ist.

Problematisch daran ist jedoch, dass wir dabei regelmäßig voreingenommen sind. Die Verhaltensökonomie spricht von kognitiven Verzerrungen oder Bias, die nicht selten zu Fehlern und Entscheidungen führen, die später bereut werden.

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So ist es etwa typisch menschlich, zu optimistisch zu sein oder auch Dinge aufzuschieben, die man besser bereits längst erledigt hätte – zwei vermeintlich kleine Besonderheiten menschlichen Verhaltens, mit denen sich selbst das Scheitern milliardenschwerer Großprojekte erklären lässt. Die Liste kognitiver Verzerrungen ist lang und deckt schonungslos auf, warum Irren menschlich ist. Nudges werden nun zunehmend systematisch eingesetzt, um erwünschte oder wünschenswerte Ergebnisse zu fördern, von umweltfreundlicheren Fahrweisen bis zu einer gesünderen Essenswahl in der Kantine.

… treffen technische Innovationen

An dieser Stelle fügt sich die zweite, technische Innovation nahtlos ein. Denn wo sich der Mensch schwer tut, ist der Computer in seinem Element. Er agiert rational, verfügt über eine ständig wachsende Rechenleistung und wertet unermüdlich noch schneller wachsende Datenmengen aus. Mit Hilfe maschinellen Lernens beobachtet KI menschliche Verhaltensmuster und meldet sich dann punktgenau und individuell zugeschnitten.

Das Nudging adressiert deshalb immer seltener die breite Masse (etwa über Plakate an der Autobahn oder Schriftzüge und Bilder auf Zigarettenpackungen), sondern zunehmend übernehmen Algorithmen den Job – dynamischer, unauffälliger, kontextbezogener und persönlicher. Die Autoergänzungsfunktion von Google oder die Wirkung von Fitness Apps sind lange etabliert. Heute werden Logistikmitarbeitende von Amazon durch elektronische Armbänder angeleitet, Radkuriere von Deliveroo werden zu schnellerer Auslieferung genudged und Fahrerinnen und Fahrer von Uber zum Anhäufen von Überstunden.

Die Beispiele zeigen: Nudging zielt keineswegs nur darauf ab, uns vor Fehlentscheidungen zu bewahren, längst wird es auch eingesetzt, um Entscheidungen im Interesse anderer herbeizuführen, sei es ein politisches Regime, ein mächtiger Konzern oder der Arbeitgeber.

Nudgen – oder genudget werden

Wie alle exponentiellen Entwicklungen ist auch die Kreuzung von Nudging und KI nur schwer zu begreifen. Heute haben durchschnittliche Computer- und Smartphone-User wöchentlich mehrere 10.000 Kontakte mit den Servern ihrer Arbeitgeber und mit denen der großen Tech-Konzerne Google, Amazon, Facebook, Microsoft und Apple. Diese digitalen Ökosysteme haben inzwischen alle Voraussetzungen, um ihre Nutzer digital anzustupsen und ihre Entscheidungen zu verändern. Die Verhaltensökonomie hat längst begonnen, branchenbezogene Konzepte für digitales Nudging zu entwerfen. Dabei geht es nicht nur um Lieferdienste, sondern auch um den Finanzmarkt (etwa wenn KI die Entscheidungen von Investmentfondsmanagerinnen und -managern hinterfragt) oder um das Gesundheitswesen (etwa wenn KI Ärztinnen und Ärzte dazu auffordert, alternative Diagnosen in Betracht zu ziehen, um so den confirmation bias zu vermeiden).

Unabhängig von Branche und Bereich: Künftig wird es insbesondere für Führungskräfte immer wichtiger, sich mit den (positiven wie negativen) Potenzialen von KI und Verhaltensökonomik auseinanderzusetzen – und Entscheidungen „architektonisch“ zu gestalten. Denn eine zentrale Zukunftsfrage lautet: Wirst du noch genudget – oder nudgest du schon?