„Es ist Zeit für eine romantische Revolution“

© Beowulf-Sheehan

Warum, glauben Sie, ist die Menschheit reif für ein neues Zeitalter der Romantik?

Die Romantik als Geistesbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts fungierte als Übergangsphase, und so ist es jetzt auch wieder. Damals war sie eine Antwort auf die Entzauberung der Welt, die durch den absoluten Glauben an die Rationalität der Aufklärung, die empirische, praktische Vernunft bedingt war. Und jetzt sind wir durch die Digitalisierung wieder an einem solchen Punkt der Entzauberung angekommen. Wir wollten mehr Bequemlichkeit und finden uns wieder in einer Welt dominiert von digitalen Plattformen aus dem Silicon „Wir müssen die Gefühle wieder ins Zentrum der Gesellschaft stellen.“ Valley, die wir tief in unser Privatleben haben eindringen lassen. Wir haben von mehr Demokratie geträumt, und was haben wir bekommen? Facebook. Wir wollten uns selbst verwirklichen, und stellen fest, dass wir nun oft nur noch auf einen Datensatz reduziert werden. Wir haben davon geträumt, dass uns Technologie menschlicher macht, und stellen fest, dass sie uns entmenschlicht – uns entweder zu smarteren Maschinen macht oder überflüssig. 

Es reicht uns heute nicht mehr, ein produktives und erfolgreiches Leben zu führen, wir wollen vor allem auch ein schönes Leben führen, ein sinnerfülltes und auch sinnliches Leben. Und wir hoffen alle insgeheim, dass das, was sichtbar und messbar ist, nicht alles ist, nicht alles sein kann. Es ist wieder Zeit für eine romantische Revolution, und diesmal muss sie aus der Wirtschaft heraus stattfinden, dem wirkmächtigsten System unserer Zeit.

Was macht diese neue Romantik genau aus?

Vor dem Hintergrund von KI und Automatisierung wird die Frage „Was macht uns menschlich?“ gleichzeitig zu der Frage „Was macht uns als Marke, als Unternehmen eigentlich noch speziell?“. Die Antwort auf beide lautet: Romantik. Wenn alles, was effizient gemacht werden kann, von Maschinen noch effizienter gemacht werden wird, dann wird die wichtigste Arbeit für uns Menschen die sein, die schön gemacht werden muss – mit Hingabe, Fantasie, Intuition, Einfühlungsvermögen und Leidenschaft. Wenn Technologie alles erklärt, alles entzaubert, müssen Unternehmen neue Mehrdeutigkeiten, neue Geheimnisse schaffen. Wenn alles hypereffizient ist, müssen Unternehmer den empfindlichen Einschnitten in unsere menschliche Autonomie eine neue Empfindsamkeit entgegensetzen. Wir müssen das Spielfeld wieder vergrößern und die Gefühle wieder ins Zentrum der Gesellschaft stellen, anstelle sie nur den politischen Rändern zu überlassen. Wir müssen gegen digitalisierte Bürokratien und Automatismen wieder ästhetische Sensibilität setzen und Künstlicher Intelligenz mit künstlerischer Intelligenz begegnen. Wenn wir diese Einsicht, diese neue Romantik, in der Wirtschaft platzieren, dann profitieren wir auch wirtschaftlich. 

Deutet sich ein Wandel hin zu einer menschenorientierteren Wirtschaft bereits an? Was sind Ihre konkreten Erfahrungen?

Ich glaube, wir haben keine andere Wahl. Eine jüngste PWC-Studie schätzt, dass in Deutschland 37 Prozent der Arbeitsplätze bis zum Jahre 2035 durch KI und Robotik ersetzt werden könnten, ein im europäischen Vergleich sehr hoher Wert. Deutschland ist deswegen ganz besonders stark gefährdet, weil es sehr industrialisiert ist, aber viele der Fertigungstätigkeiten weniger soziale Intelligenz erfordern als in anderen Industrienationen. Nicht zuletzt deswegen sind deutsche Konzerne endlich aufgewacht und sehr stark interessiert an dem Thema Humanisierung.

Vor drei Jahren noch wäre es für mich undenkbar gewesen, meine Ideen vor Führungskräften von Siemens, Airbus, Daimler, Merck oder Rewe zu präsentieren – jetzt ist das anders. Die Unternehmen haben „Die Unternehmen haben begriffen, dass nur eine menschenorientierte Wirtschaft langfristigen Erfolg ermöglicht.“ begriffen, dass nur eine menschenorientierte Wirtschaft langfristigen Erfolg ermöglicht, es sei denn, sie entfernen den Menschen ganz bewusst aus der Wertschöpfungskette und bieten stattdessen einkaufenden Algorithmen voll automatisiert produzierte Güter an, wie das beispielsweise prinzipiell sogenannte „Dezentrale Autonome Organisationen“ tun könnten. Einige Unternehmen haben Kulturwandelinitiativen gestartet oder andere Modelle entwickelt, um ihre Kulturen zu (re)humanisieren. Humanisierung ist auch das übergreifende Thema zahlreicher Konferenzen und Seminare. Aber es ist noch ein langer Weg, und die kurzfristigen Zwänge gerade börsennotierter Konzerne stellen erhebliche strukturelle Hindernisse dar. 

Das gesamte Interview mit Tim Leberecht erschien in der Studie „Siegeszug der Emotionen - Erfolgreich in die intensivste Wirtschaft aller Zeiten“. Darin erklärt Leberecht außerdem, auf welche drei Arten wir wirtschaftlich von dieser neuen Romantik profitieren, wie Digitalisierung und Romantik zusammenpassen und wie Unternehmen diesen Wandel mitgestalten können.

Tim Leberecht

 

Tim Leberecht hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in Führungspositionen in der Design- und Technologiebranche in den USA, in Asien und Europa. Als weltweit tätiger Berater, Autor des internationalen Bestsellers „Business Romantiker“ und Gründer der Business Romantic Society unterstützt er Unternehmen und Führungskräfte bei Visionsentwicklung, strategischen Transformationen sowie der Gestaltung von menschlicheren Kulturen. Er ist zudem der Initiator und Kurator des House of Beautiful Business, einer jährlichen Konferenz, die CEOs, Gründer und Softwareentwickler mit Wissenschaftlern, Dichtern und Philosophen zusammenbringt, um eine optimistische Vision für eine menschenfreundliche Zukunft der Arbeit zu entwerfen.

Sie können Tim Leberecht auch als Vortragenden bei Future Day buchen.

Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

Megatrend Individualisierung

Megatrend Individualisierung

Im Megatrend Individualisierung spiegelt sich das zentrale Kulturprinzip der aktuellen Zeit: Selbstverwirklichung innerhalb einer einzigartig gestalteten Individualität. Er wird angetrieben durch die Zunahme persönlicher Wahlfreiheiten und individueller Selbstbestimmung. Dabei wird auch das Verhältnis von Ich und Wir neu ausgehandelt. Es wächst die Bedeutung neuer Gemeinschaften, die der Individualisierung künftig ein neues Gesicht verleihen.

Dossier: Marketing

Dossier: Marketing

Wir stehen vor einer Marketing-Zäsur. Selbstbewusste, ermächtigte Kunden werden Marketing in Zukunft anders bewerten. Mehr Marketing wird nicht mehr automatisch für mehr Absatz sorgen. Künftig werden Konsumenten nur dann zu echten Kunden, wenn die Vertrauensbilanz stimmt.

Interviews

Interviews

In unserem täglichen Umfeld bewegen sich viele spannende Vordenker und Zukunftsgestalter. Und manchmal haben wir die Möglichkeit, den Austausch mit diesem besonderen Personen zu dokumentieren. Lassen Sie sich inspirieren!