Trips on demand

Ob maßgeschneiderte Gruppenreisen oder Locals als Reiseführer: It’s all about specialness. Die Reisen der Zukunft sind genau so individuell wie die Reisenden

Quelle: TREND UPDATE 06/2014

Dudarev Mikhail / Fotolia

Reisen bildet. Wer sich auf den Weg macht, möchte seinen Horizont im wahrsten Sinne des Wortes erweitern. Das gilt umso mehr in einer Wissensgesellschaft, in der der Hunger auf Neues, Unentdecktes wächst. Doch die tradierten Angebote der Reiseindustrie halten mit der Sehnsucht der Menschen nicht Schritt. Das Wachstum der Tourismusbranche steht ihr quasi selbst im Weg. Es führt dazu, eine wachsende Zahl von Menschen an die gleichen Orte zu verfrachten, ihnen dort die gleichen Angebote zu machen, obwohl deren Interessen immer spezifischer werden. Nicht jeder will schließlich immer nur Banana-Boat fahren.

Die Tatsache, dass AirBnB seine Nutzerzahl 2013 auf über 8 Millionen verdoppelt hat, zeigt die Sprengkraft, die der Megatrend Individualisierung in Zusammenspiel mit dem Megatrend Konnektivität entfaltet. Die Tourismusindustrie wird sich von der industriellen Produktion ihrer Angebote verabschieden müssen, um das neue Bedürfnis der Reisenden von morgen zu treffen: der Wunsch nach Besonderheit. Doch wenn es immer mehr in Richtung Special Interest geht: Wie kann sich das rechnen? Woher weiß ein Reiseanbieter, dass sein hochspezialisiertes Produkt auf genügend Nachfrage trifft?

Reverse Travel: Schweine schlachten in Ungarn

Eine Antwort auf dieses Dilemma bietet die Reiseplattform Opentrips, die das vorherrschende Geschäftsmodell der Branche auf den Kopf stellt: Nicht die Veranstalter konzipieren das Angebot, sondern die Kunden. Bei Opentrips kann jeder ein Reisevorhaben vorschlagen und nach Mitreisenden suchen, um die Idee zu realisieren. Die anderen User können dann dem veröffentlichten Vorschlag folgen und eigene Ideen für die Reise einbringen. Wenn sich genügend Follower gefunden haben, wird gemeinsam über das Datum der Reise abge- stimmt. Steht das Konzept, wird der Vorschlag an die Verantwortlichen von Opentrips gesendet, die dann lokale Reiseanbieter kontaktieren. So soll das Vorhaben entsprechend der Kundenwünsche umgesetzt werden.

Auf diesem Wege kommen hyperindividualisierte Reisen zustande. So machte sich kürzlich eine Gruppe von 15 Menschen aus Deutschland und England auf den Weg nach Mad, den östlichsten Zipfel von Ungarn, um dort ein Schwein zu schlachten. Den Teilnehmern – u. a. ein Restaurantbesitzer, ein Web-Designer, ein Logistikunternehmer sowie ein Investment-Manager – ging es um die ursprüngliche Erfahrung, das zu essen, was man selber zerlegt hat. Auch um sich bewusst zu werden, was Fleischkonsum in letzter Konsequenz bedeutet. Getötet wurde das Tier im Übrigen von einem gelernten Metzger. Alle anderen Schritte wie das Ausweiden übernahmen die Teilnehmer.

Hyperlokal: Hinter die Fassaden blicken

Wer als Reiseanbieter oder auch als Destination seinen Gästen ein besonderes Erlebnis bieten möchte, muss diese hinter die Fassaden blicken lassen. Spannend wird das, was vorher keine Sehenswürdigkeit war: das Klärwerk, die verfallene Industrieruine, die Hinterhöfe, das Hyperlokale. Eine neue Kategorie von Reisenden – die Urban Explorers – sind auf der Suche nach diesen Un-Orten, um der wahren Identität einer Stadt oder einer Landschaft nachzuspüren. Um diese Orte zu erschließen, sie mit Besonderheit aufzuladen und um interessante Hintergründe zu vermitteln, werden jene immer wichtiger, die bis dato nur eine nebensächliche Rolle in der Tourismuswirtschaft spielten: die Locals.

Über die gewandelte Rolle des Lokalen und deren Macher schreibt die Tourismusexpertin Anja Kirig in ihrem „Tourismusreport 2014“: „Hyperlokal basiert auf einer autonomen, sich selbst erschaffenden Kreativ-Gemeinschaft, die die örtliche Kultur für sich nutzbar macht. Lokale Gegebenheiten bekommen dabei eine neue Wertigkeit. Insiderwissen schafft Identifikation und Zugehörigkeit – für Ortsansässige und auch für Fremde.“ Es ist gerade die Globalisierung und der kosmopolitische Blick, der die Wertschätzung für das Lokale wachsen lässt. Denn es steht für Identität und Authentizität.

Wer seinen Gästen Einblicke in Welten gibt, die sonst nur Locals vorbehalten waren, macht sie zum Teil der Community. Die Transformation vom Touristen zum „Local auf Zeit“ ist die Dienstleistung, um die es künftig in der Branche geht. Wie sich dies konkret umsetzen lässt, zeigt das Beispiel von der Hotelkette Marriott Australia, die den Service „This City, my way“ anbietet. Dazu haben sie acht jugendliche Digital Concierges engagiert, die Fotos von ihren Lieblingsplätzen und Sightseeingvorschläge, aber auch Ausgehtipps auf Instagram posten. Zusätzlich können junge Urlauber über den Instant Messenger „Kik“ ihre Fragen direkt an die Digital Concierges richten und sich so nach aktuellen Events und coolen Locations erkundigen. So haben sie die Möglichkeit, die Stadt mit dem Wissen der Locals authentisch zu erkunden und für die Zeit ihres Urlaubs in die Lebenswelt junger Australier einzutauchen.

Die Individualisierung der Pauschalreise

Neben den neuen Phänomenen der Special-Interest-Reise on demand, das aufgrund der niedrigen Skaleneffekte vorerst auf Nischenanbieter beschränkt ist, entwickeln sich ebenso Modelle, die massentauglicher sind und den Großen der Branche als Vorbild dienen können. Eines davon ist das Schweizer Startup Nezasa. Es bietet seinen Kunden quasi die individualisierte Pauschalreise und kombiniert den Komfort eines Reisebüros mit den Vorzügen der Online-Welt. Über die Website lässt sich die individuelle Traumreise aus verschiedenen Bausteinen zusammensetzen. Dazu wählt man eine vorgegebene Reiseroute aus, kann dann aber selbst entscheiden, wie lange man an einem Ort verweilt, mit welchem Transportmittel man weiterreist und welche Sehenswürdigkeiten man besuchen möchte. Der große Vorteil ist das All-in-one-Booking. Der Kunde kann eine auf ihn persönlich abgestimmte Reise als Paket buchen und alle Annehmlichkeiten einer Pauschalreise genießen. Es gibt also noch reichlich Innovationspotenzial für die Modernisierung der Pauschalreise, die es auch in Zukunft noch geben wird – nur eben individueller.

Dass diese Reiseform nach wie vor beliebt ist, zeigt nicht zuletzt der Marktanteil, der in den letzten Jahren zwar leicht abgeschwächt wurde, aber konstant bei über 40 Prozent liegt.

Ein zentraler Aspekt darf bei der Transformation tradierter Reiseformen in die von Individualisierung geprägte Welt von morgen jedoch nicht vergessen werden: Authentizität. Wer das Besondere, die Überraschung, das lokale Flair sucht, will keine Kulisse vorgesetzt bekommen. So boomen in der Toskana beispielsweise zu Hotelresorts umfunktionierte ehemalige Mini-Dörfer nur, wenn sie ganz nah am Original bleiben und wenig künstlich daherkommen. Der Reiseveranstalter TUI jedenfalls tut sich mit einem Großprojekt schwer, das versucht, das perfekte Stück Toskana für Touristen zu inszenieren. Der Konzern kaufte das verlassene Dorf Castelalfi in den Bergen von Montaione und will es bis 2018 Stück für Stück zu einem Ferienresort mit Eigentumswohnungen umbauen. Das erste von drei Hotels ist eröffnet, doch es halten sich Gerüchte, dass TUI sich zurückziehen und das Prestigeprojekt schon wieder weiterverkaufen will …

Die große Herausforderung bei der Individualisierung des Reisens liegt in der Kunst, die Wünsche der Gäste mit der ökonomischen Logik der Anbieter zu vereinen. Die Lösung liegt in der klugen Vernetzung – sowohl in technologischer als auch in sozialer Hinsicht. Anbieter brauche smarte Algorithmen, aber auch Allianzen und Partnerschaften, um individuellere Reiseangebote schaffen zu können. Die nächste Dekade in der Tourismuswirtschaft wird von Impulsen geprägt sein, die von innovativen Startups ausgehen. 

Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

Dossier: Tourismus

Dossier: Tourismus

Der Tourismus ist zu einer der größten Branchen der Erde geworden. Er formt ganze Landstriche um und verändert Gesellschaften in schnellem Tempo. In Megatrends wie Mobilität, Individualisierung, Neo-Ökologie artikulieren sich die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Reisenden weltweit.

Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Andreas Steinle

Andreas Steinle ist Experte für die praktische Umsetzung von Trends in Business-Innovationen. Seine Kernfrage: Was bringt Gesellschaft und Wirtschaft voran?