Warum Konzerne nichts von Startups lernen

Der Konzern-Tourismus ins Silicon Valley nimmt kein Ende. Doch werden Firmen wirklich innovativer, wenn sie versuchen, die Geheimnisse des Silicon Valley zu ergründen?

Von Dr. Reinhold Rapp (01/2017)

Unsplash / Matthew Henry / CC0

Wer als Großkonzern etwas auf sich hält, fliegt heutzutage ins Silicon Valley und schnuppert Startup-Atmosphäre. Selbst der Vorstand der Deutschen Bahn hat sich ein Haus in Palo Alto gemietet, die üblichen Verdächtigen besucht und wichtige kulturelle Erfahrungen gemacht: Laut Vorstandsvorsitzender Rüdiger Grube hat man gelernt, morgens diszipliniert vor den gemeinsamen Duschen anzustehen. Während ich diese Anekdote in der Zeitschrift der DB lese, versuche ich erfolglos ins WLAN zu kommen – noch ist nicht allzu viel vom digitalen Gedankengut in meinem ICE angekommen. Und zudem: Wäre es nicht besser gewesen, einmal nach China zu reisen, um zu sehen, wie die ICE-Kopie besser performt als das Orginal und wie Sicherheit und Vernetzung auf den Bahnhöfen dort funktionieren?

Ähnliches habe ich inzwischen bei vielen etablierten Konzernen beobachtet: Man will Energie und Aufbruchstimmung absorbieren und die vordergründig erlebte Startup-Kultur nach good old Germany bringen. So habe ich vor kurzem einen Inkubator oder ein Entrepreneurlabor (so sicher war man sich noch nicht mit der Bezeichnung) eines Weltmarktführers besucht: Für bestimmte Zeit können sich Führungskräfte in diese „kreative“ Umgebung zurückziehen, im Umfeld des Design Thinking arbeiten und bereits mittags ein Bier aus der Flasche trinken. In drei Monaten soll dann das neue Geschäftsmodell stehen, und man geht mit guten Gefühlen in die etablierte Organisation zurück. Irgendjemand wird das ja dann schon umsetzen.

Soweit die Theorie. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Firmen werden nicht innovativer, wenn sie die versuchen, die Geheimnisse des Silicon Valley zu ergründen. Ein Geschäftsführer und Besitzer eines kleinen Konzerns in Deutschland berichtete mir nach seinem sechswöchigen Aufenthalt sehr offen: „Sehr viel gelernt – nichts davon kann ich in meiner heutigen Firma umsetzen.“ Inzwischen glaube ich sogar, dass die Versuche, sich etwas abzugucken, kontraproduktiv sind, denn etablierte Unternehmen zeigen sich sehr lernunfähig bzw. ziehen vollkommen falsche Schlussfolgerungen.

Startups sind das Gegenteil von existierenden Unternehmen, und beide haben eigentlich nichts miteinander zu tun. Konzerne sind All-inclusive-Reisende, Startups Dschungelabenteurer; Konzerne sind Armeen, Startups Guerillas; Konzerne sind Orchester, Startups sind Punks. Die Versuche, voneinander zu lernen, scheitern oft an diesen Unterschieden – umso wichtiger ist es, diese genau zu kennen. Die Organisationsformen und Menschen unterscheiden sich fundamental in sechs Punkten:

1. Startups sind keine kleinen Ausgaben von Konzernen

Obwohl alle glauben, dass es eine logische Abfolge „Startup – Mittelstand – Konzern“ gibt, ist diese Entwicklung sehr selten und eher hypothetisch. Die meisten Startups verschwinden in einem frühen Stadium vom Markt (Scheitern/Kauf) und bei den wenigen, die zu Konzernen werden, sind alle zentralen Hindernisse eines Konzern vorhanden. Amazon-Gründer Jeff Bezos gibt gerne zu, dass schon seit Jahren jede Neuerung, die er bei Amazon vorschlägt, auf enormen internen Widerstand stößt – etwas, das viele Vorstände deutscher Konzerne mir oft bestätigen. Startups wiederum lieben und kultivieren die Kultur des Neuen bis hin zum Extremen – kein Stein wird auf dem anderen gelassen, und wer ein paar Tage nicht im Büro war, wird verwirrt sein über die Anzahl der Änderungen. Startups sind gebaut, um etwas Neues zu schaffen und müssen vollkommen anders funktionieren als ein kleiner Ableger eines Konzerns. Man muss nur einmal Airbnb besucht haben: Büros, die im Stil der schönsten Kunden-Wohnungen eingerichtet sind, direkt im Hafen von San Francisco – wer könnte sich dies bei einem Hotelkonzern vorstellen?

2. Startups gründen sich, um Konzerne zu zerstören

Fast alle Startup-Gründer haben nie in einem Konzern gearbeitet oder wollen niemals dort arbeiten. Ihre Intention ist es, den großen Konzernen das Leben schwer zu machen und, im besten Sinne Schumpeters, die etablierten Spieler zu zerstören. Deshalb sind sie so darauf fixiert, sich anders zu kleiden, sich anders zu verhalten und anders ent- und belohnt zu werden. Der Antrieb, etablierte Anbieter in die Schranken zu weisen oder gar deren Märkte zu beseitigen, ist in der DNA vieler Startups verankert. Deshalb funktionieren deren Ansätze auch so schlecht im Umfeld von Konzernen, denn sie würden die Zerstörung von innen bedeuten. Die Kultur eines Ubers oder Amazons würde wohl kaum in die „political correctness“ oder Leitlinien eines Großunternehmens passen.

3. Startups sind Experimentierfelder und zum Scheitern gebaut

Steve Blank, einer der Startup-Vordenker, hat einmal gesagt: Konzerne führen erprobte, sichere Geschäftsmodelle durch, Startups sind auf der permanenten Suche nach unbekannten und unsicheren Modellen. Startups sind damit eher nah an wissenschaftlichen Experimenten als an klassischen Unternehmen. Sie sind temporäre Organisationen, und die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns und der persönlichen Tragödie ist ziemlich groß. Es ist immer spannend, wenn Europäer behaupten, in den USA ließe sich besser scheitern. Wer jedoch einmal Gründer kennengelernt hat, die sich um einen neuen Job bemühen und in einer Programmierer-Kultur neu zurechtfinden müssen, wird an dieser These seine Zweifel haben.

4. Konzerne hassen Risiken, Überraschungen und Veränderung

Konzerne versuchen sich von Veränderungen und Risiken zu befreien. Der Begriff des Risikomanagements spielt eine immer größere Rolle. Bereiche für Controlling, Revision und Compliance werden ausgebaut und bekommen für die Sicherung von Stabilität eine immer stärkere Bedeutung. Dies ist auch gut im Sinne der Absicherung, denn Investoren erfordern genau diese Überprüfungen und Vorsorgen. Wahrscheinlich lassen sich solch große Organisationen nur noch so in einem turbulenten Fahrwasser bewegen. Und trotz der publikumswirksamen Störfälle halten sich viele Konzerne noch sehr gut – obwohl sie schon seit Jahren in gesättigten Märkten oder mit alten Geschäftsmodellen unterwegs sind. Natürlich schlagen diese oft nicht nach oben aus: Die deutschen Top 500-Unternehmen weisen gerade einmal ein Wachstum von 2,8 Prozent in den vergangenen 10 Jahren auf (im Gegensatz zu 6,4 Prozent der globalen 500). Aber immerhin: Sie wachsen noch.

5. Konzerne sind für den Status quo gebaut

Konzerne planen gerne die Zukunft, kaum eine Entscheidung geht ohne detaillierte Analyse oder zahlengenaue Vorausschau. Die Grundlagen zu diesen Planungen sind natürlich auch viel besser als bei Startups, aber die Pläne forcieren ein Status-quo-Denken. Noch einmal das gleiche wie im Vorjahr – nur ein bisschen besser. Bloß nicht zu viel ändern – „never touch a running system“. Dies macht für den Moment auch viel Sinn, doch in einer immer dynamischeren Welt ist der Status quo mittelfristig kaum noch die sinnvollste Option. Nichtsdestotrotz: Große Schiffe brauchen ihren stabilen Kurs, kleine Schnellboote wechseln dagegen häufig ihre Linien. Aber können Ozeanriesen etwas von den Rasern auf hoher See lernen?

6. Konzerne lassen keine Querhändler und Abbrecher zu

Querdenken mag ja in manchen Konzernen erlaubt sein, Querhandeln wird jedoch nur auf kurze und sehr erfolgreiche Zeit toleriert. In den USA spricht man von den „Mavericks“, man versteht darunter ein unabhängiges Individuum, das nicht die Regeln von Gruppen oder Parteien befolgt, sondern nur seinen eigenen Weg. Um es noch einmal mit den Worten von Stanford-Professor Blank zu sagen: „Startups protect Mavericks, companies fire mavericks.“ Über kurz oder lang können sich diese unabhängigen Individuen entweder nicht halten – oder sie passen sich an und sind keine Mavericks mehr. Anders gesagt: Zum Gründen eines neuen Unternehmens braucht man keine Mitarbeiter, sondern Gründer. Ich kenne nur wenige Beispiele erfolgreicher Startups, die aus Unternehmen gegründet wurden – und dann sind es oft Mavericks, die entweder ausbrechen oder denen bewusst ein neuer Spielraum zur Verfügung gestellt wird. Die Integration von Gründern oder gar gescheiterten Gründern in große Konzerne ist wiederum oft nur von kurzer Dauer, denn auch sie passen nicht zur Unternehmenskultur. Oft fühlen sich beide Seiten, der Gründer und das Unternehmen, eher unwohl.

Für Startups ist es nicht wichtig, von etablierten Firmen und Konzernen zu lernen – sie wollen vor allem Neues und Anderes tun, Etabliertes angreifen. Sie sollten dennoch ein gutes Verhältnis zu Konzernen aufbauen, denn über kurz oder lang werden sie mit diesen zusammenarbeiten, von diesen erworben, oder gar selbst zu etablierten Firmen (Letzteres geschieht aber sehr selten). Die neuen Großkonzerne wie Google, Alibaba oder Xiaomi haben den Wert von Startups erkannt. Heute sind diese Unternehmen die größten Investoren in der erfolgreichen Startup-Szene, und deren Gründer sind oft ehemalige, zum Teil unzufriedene Mitarbeiter. Das wäre auch ein guter Weg für andere Großunternehmen: Frühzeitig in die Startups in China, Indien, im Silicon Valley oder in Europa zu investieren, um die Testfelder und den Wissenszuwachs zu sichern. Konzerne sollten kooperieren und investieren, vielleicht sogar Ausgründungen finanzieren. Aber einfach kopieren und ähnliche Strukturen in existierenden, erfolgreichen Firmen aufzubauen, macht aus kulturellen und strukturellen Gründen keinen Sinn.

Daher gilt es, früh den Kontakt zu Mavericks aufbauen. Dies ist nicht immer einfach und für erfahrene Manager oft nicht angenehm. Typen wie Uber-Gründer Travis Kalanick oder Snapchat-CEO Evan Spiegel sind interessante Meinungsmacher und Querdenker. Sie kommen aus der Generation, die die Zukunft macht statt über sie redet. Und sie sind Regelbrecher. Aber diese Menschen findet man nicht in Konzernen. Sie würden aufgrund ihrer Persönlichkeit kein Assessment Center oder Bewerbungsgespräch bei einem Konzern überstehen. Sie würden nicht einmal dazu eingeladen werden. Allein schon, weil sie, wie Steve Jobs oder Bill Gates, ihr Studium erfolglos abgebrochen haben und oft über keinen Abschluss verfügen. Trotzdem führen sie beide Unternehmen, die heute mehr wert sind als die größten Konzerne Deutschlands.

Zentral ist es deshalb, den Austausch zu suchen und die Beweggründe und Ansätze von Startups und ihren Gründern zu verstehen. Sie sind die Zukunft der Unternehmen – und sie werden die Kulturen der nächsten 50 Jahre prägen.

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