Warum Männer zentrale Treiber des Feminismus werden

Die nächste Welle des Feminismus wird davon getragen werden, dass Männer in den Kampf um Gleichberechtigung mit einsteigen – um ihrer selbst Willen. Männer sind die neuen zentralen Player im Kampf gegen ein System, das wenigen nützt, aber vielen schadet. Ein Ausblick von Lena Papasabbas. – Auszug aus dem Zukunftsreport 2022.

Männlichkeit ist heilbar! Der größte Psychologenverband der Welt, die American Psychological Association, warnt in seinen Richtlinien für die Arbeit mit Jungen und Männern vor den gesundheitlichen Konsequenzen traditioneller Männlichkeit. Der Grund: Typisch maskuline Eigenschaften wie Dominanz und Konkurrenzdenken treiben Männer häufiger hinter Gitter, in Burn-out und Depressionen, ins Krankenhaus oder sogar in den Tod. Suizid ist die häufigste Todesursache von Männern unter 35. Traditionelle Männlichkeit ist psychisch schädlich, stellt die einflussreiche Organisation fest, und empfiehlt, sie bei allen männlichen Klienten zu berücksichtigen und gegebenenfalls mitzubehandeln.

Viele Frauen kennen die Folgen der typisch männlichen Sozialisation. Unter dem Begriff „toxische Männlichkeit“ werden all jene Verhaltensweisen diskutiert, die aus ihr entstehen: Männer, die unterbrechen, die zu viel Raum in der Bahn einnehmen, zu viel Redeanteil im Meeting, die nicht zuhören, ungefragt Dinge erklären, zu laut über ihre eigenen Witze lachen und genervt sind vom Gendern. Aber eben auch Männer, die belästigen, misshandeln, schlagen und vergewaltigen. In Deutschland versucht im Schnitt pro Tag ein Mann, eine Frau umzubringen. Ungefähr jeden dritten Tag gelingt es. Die meiste Gewalt von toxischen Männern trifft allerdings gar nicht Frauen. Sie trifft andere Männer.

Die Angst, kein richtiger Mann zu sein

Das größte Problem ist weniger das Männlichkeitsideal selbst, sondern die Angst davor, ihm nicht zu entsprechen. Und Angst ist eine mächtige Triebkraft menschlichen Handelns. Die Sorge, kein richtiger Mann zu sein, begleitet viele heranwachsende Männer. Die Ursache liegt in der Geschlechterhierarchie begründet: „Toxische Männlichkeit erwächst im Grunde aus der Angst vor Entmannung, die als das Schlimmste gilt, was einem Mann passieren kann“, schreibt Jack Urwin in „Boys Don’t Cry“: „Es gibt kein echtes Äquivalent dafür bei Frauen. Warum? Weil sie in der Hierarchie schon ganz unten sind. Männer fürchten Entmannung, weil sie damit ganz nach unten fallen“.

Deshalb können Frauen Bier trinken, Punkmusik hören, Hosen tragen oder in die Politik gehen, ganz ohne Sorge vor sozialem Abstieg, während Männer, die Prosecco trinken, Boybands mögen, Röcke tragen oder als Kosmetiker arbeiten, Statusverlust riskieren. Männlichkeit gilt es ständig neu unter Beweis zu stellen, durch coole Sprüche, Mutproben, Trinkspiele, physisches Kräftemessen, Erniedrigung anderer oder das Vortäuschen von Dauergeilheit und unerschöpflicher Potenz.

Männer, die weiblich assoziierte Dinge tun wie sich die Nägel zu lackieren oder Emotionen zu zeigen, müssen damit rechnen, als schwul zu gelten. Und schwule Männer sind irgendwie schwächer, weicher – weniger männlich. Und da Schwulsein so unmännlich ist, ist es mit Statusverlust verbunden. Dadurch fällt eine Vielzahl an Möglichkeit weg, sich auszudrücken: Mit Kumpels kuscheln, mit einem Freund Hand in Hand gehen, in der Öffentlichkeit herumalbern, im Kino weinen – alles verdächtig.

Megatrend Gender Shift

Megatrend Gender Shift

Die tradierten sozialen Rollen, die Männern und Frauen in der Gesellschaft zugeschrieben werden, verlieren an gesellschaftlicher Verbindlichkeit. Das Geschlecht verliert seine schicksalhafte Bedeutung und bestimmt weniger über den Verlauf individueller Biografien. Veränderte Rollenmuster und aufbrechende Geschlechterstereotype sorgen für einen radikalen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft hin zu einer neuen Kultur des Pluralismus.

Die Angst vor dem Verlust der eigenen Männlichkeit ist so groß, dass Männer, die Männern gegenüber Zuneigung ausdrücken, in manchen Kreisen ein „No Homo!“ hinterherschicken. Es geht dabei weniger um die Sorge, bei Frauen schlecht anzukommen als um die Angst, in der sozialen Hierarchie abzurutschen. Studien zeigen, dass selbst schwule Männer oft das Gefühl haben, besonders männlich wirken zu müssen, damit die Gesellschaft und insbesondere andere Männer sie akzeptieren.

Wütende weiße Männer

Konkurrenz und Wettbewerb sind zentrale Bestandteile von Männerwelten. Das ist weder zufällig noch natürlich. Diese Werte wurden für die erwerbstätige Hälfte der Gesellschaft aktiv vermittelt und gefördert. Unser Wirtschaftssystem und unsere Vorstellungen von Männlichkeit hängen eng zusammen. Erst mit der Verbreitung des Neoliberalismus entwickelte sich seit den 1970er-Jahren das vorherrschende Paradigma, das eine Stärkung unternehmerischer Macht und ein Zurückdrängen sozialer Sicherungen beinhaltete und gleichzeitig kulturell eine Vorstellung von Individualisierung vermittelte, in der jeder für seinen Erfolg selbst verantwortlich ist. Heute als männlich angesehenen Eigenschaften wie Unabhängigkeit, Härte, Konkurrenz, Wettbewerb und Aggression wurden über Jahrzehnte für die männliche Hälfte der Gesellschaft gefördert und gefordert.


Heute führen die einst erwünschten Qualitäten jedoch nicht mehr zum ökonomischen und gesellschaftlichen Erfolg wie noch in der Väter- und Großvätergeneration. Der Frust ist immer dort besonders groß, wo das Patriarchat dem Neoliberalismus nicht mehr nutzt. In den USA hat dieser Mismatch von System und Geschlechterrollen dem Rechtspopulismus einen fruchtbaren Nährboden verschafft. Immigranten und Feministinnen werden als Sündenböcke für den persönlichen Statusverlust herangezogen. In „Angry White Men“ erklärt der Soziologie Michael Kimmel den Hass gegen Frauen und Fremde mit der Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust. Kimmel führt den Aufstieg des Rechtspopulismus auf die verletzte Männlichkeit vornehmlich weißer, konservativer Amerikaner zurück, die die Abgabe von Privilegien mit Benachteiligung verwechseln.

Egal ob Tea Party oder AfD, die verbitterten weißen Männer eint ein bestimmtes Gefühl: Wut. Wut darüber, dass ihnen etwas verwehrt wird, das ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Rechtes Gedankengut und toxische Männlichkeit sind untrennbar verknüpft. Der rechte Backlash ist ein giftiges Aufbäumen der einstigen Gewinner einer Weltordnung, die eine klare Hierarchie kannte.

Die neue Männlichkeit

Doch zugleich erlebt die Art, wie Männer miteinander umgehen, heute einen radikalen Wandel. Von einer Generation zur nächsten entsteht ein Sprung in der Evolution von Männlichkeit, viele Jungs und junge Männer unterscheiden sich grundlegend von ihren Vätern und Großvätern. Sie zeichnen sich vor allem durch eines aus: Sie sind unheimlich nett zueinander.

Kein Machogehabe, kein Konkurrenzdenken, keine Mutproben, kein Wettbewerb. Man drückt Zuneigung aus, spricht miteinander, nimmt sich in den Arm. Scheinbar kleine, unbedeutende Gesten, die nichts weniger als das Ende des harten, starken Mannes einläuten. Beobachten kann man diese neue Qualität des Miteinanders in den Social-Media-Bubbles junger Leute. Influencer Theo Carow steht exemplarisch für diesen neuen Typus Mann. In seiner Crew „Why Nils“ spricht man über Gefühle, Ängste und Schwächen. Tränen sind normal. Lustig gemacht wird sich nur über sich selbst.

Dieser radikale Bruch bedeutet eine Revolution der Rollenbilder – und zwar für beide Geschlechter. Denn toxische Männlichkeit wird im Alltag vor allem von Männern untereinander forciert und subtil oder offen eingefordert durch das Belächeln, Auslachen, Verurteilen, Verletzen, Bloßstellen, Beleidigen und Diskriminieren von Männern, die nicht der Idee des wahren Mann-Seins entsprechen. Diese neuen Männer jedoch haben erkannt, dass die propagierten Rollenklischees ihnen nicht mehr dienen. Sie befreien sich davon mit der Leichtigkeit derer, die von Gleichgesinnten umgeben sind.

Die neuen Männlichkeiten

Die neuen Männlichkeiten: Role-breaking Role Models

„Männlichkeit“ wird künftig für wenige verbindlich sein. Die Vorstellung vom „echten Mann“ beginnt zu verschwimmen und ermöglicht viele neue Männlichkeiten.

Es ist kein Zufall, dass genau die Männer, die freundlich miteinander umgehen, auch diejenigen sind, die keine Angst mehr vor femininen Attributen haben. Theo Carow hat Millionen Follower. Manchmal fragt ihn einer, ob er schwul ist. Das stört ihn jedoch nicht – und das ist ein entscheidender Fortschritt: In dem Moment, wo das Infragestellen der eigenen Heterosexualität keine Wirkung mehr hat, beginnt sich ein neues Männerbild abzuzeichnen, das sich endgültig von der Abwertung des Femininen löst.


Arbeiten Sie mit uns an Ihrer Zukunft

Lena Papasabbas

Lena Papasabbas

Zukunftsforscherin Lena Papasabbas beschreibt die Megatrends und insbesondere den Wandel der Netzwerkgesellschaft, der Geschlechterrollen und Technologien.

Keynotes

Keynotes

Die Keynote Speaker des Zukunftsinstituts liefern mit ihren Analysen und Vorträgen faszinierende Einblicke in die Wirtschaft und Gesellschaft von morgen.

Unsere Publikationen

Publikationen

In unseren Studien, Reports, Workbooks und Co. analysieren wir Trends, beleuchten Zukunftsthemen und liefern Orientierung im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel.