In der Zusammenschau aller Frühanzeichen für Veränderung lässt sich das Muster erkennen, das sich auch in der Auswertung der nextpractice-Daten abzeichnet: Das „Prinzip Selbstorganisation“ prägt sich stärker aus. Abseits institutioneller Akteure und politischer Vorgaben scheint es zunehmend Raum zu greifen, gekoppelt mit einem höheren Grad an Selbstverantwortung. Als Ergebnis entstehen schon heute abseits des bestehenden Wertepatts erste „progressive Wirs“, die andere Formen von Solidarität und Gemeinsamkeit hervorbringen.
Selbstorganisation ohne schützendes Netz kann je nach Perspektive auch schnell als neoliberales Agieren verstanden werden – und die Situation noch verschärfen. So beschreibt etwa der Ökonom und Soziologe Oliver Nachtwey den Übergang zum neu gestalteten deutschen Sozialstaat in der „regressiven Moderne“, jenseits des paternalistischen Fürsorgeprinzips – und macht aufmerksam auf die Bewertung der dabei dominanten Begriffe:
„Eigenverantwortung war nicht länger ein Begriff für den Anspruch auf ein selbstverantwortetes Leben, sondern wurde vornehmlich zu einer Vokabel sozialer Disziplinierung (...) Nur jene Individuen – vor allem aus der Mittel- und Oberschicht –, die sich konform verhalten und nicht auf den Sozialstaat angewiesen sind, denen es also nicht schwerfällt, die Herausforderung der Eigenverantwortung zu schultern, bleiben frei von neopaternalistischen Zumutungen und erfahren einen realen Zugewinn an Autonomie.“
Jede Zukunftsvision, die auf Selbstverantwortung setzt, darf diesen Umstand nicht aus dem Auge verlieren.
Vertrauen ins System: Mehr Eigenverantwortung
Klaus Schwab, der Chef des Weltwirtschaftsforums, untersucht in seinem Buch „Die Vierte Industrielle Revolution“ deren potenzielle Auswirkungen auf Unternehmen, Staaten, Länder, die Gesellschaft und den Einzelnen. Auch er sagt: „Eine der weitreichendsten Veränderungen in all diesen Bereichen wird auf eine einzelne Kraft zurückzuführen sein: Empowerment.“ Die Ermächtigung bzw. Befähigung zur Selbstbestimmung verändere alles: das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern, zwischen Unternehmen und ihren Mitarbeitern, zwischen Aktionären und Kunden sowie zwischen Supermächten und kleineren Ländern. Die disruptive Wirkung dessen, was Schwab die „Vierte Industrielle Revolution“ nennt, werde es nötig machen, dass sich „ermächtigte Akteure“ als Teile eines weitverzweigten Machtsystems verstehen, das nur mit kooperativeren Formen der Interaktion erfolgreich sein kann.
Selbstorganisation als Prinzip, Selbstverantwortung als Impuls von innen und aktive Einmischung als Ausdruck einer wachsenden Ungeduld – das konstatiert auch „Handelsblatt“-Herausgeber Gabor Steingart in seinem Buch „Weltbeben. Leben im Zeitalter der Überforderung“. Im Kapitel zur Demokratie – Untertitel: „Aufstand der Bürger“ – schreibt er: „Der kommende Aufstand wird einer sein, der den Westen
Es zeigen sich bereits die Umrisse einer Gesellschaft, die Ihr Schicksal in die Hand nehmen will
mehr verändert als alle Wahlen der vergangenen Jahrzehnte. Im Zentrum dieser Veränderung stehen keine Partei oder Religion, kein Führer oder Guru, sondern ein selbstbewusstes Bürgertum, das den Umsturz jener Verhältnisse will, die als widrig empfunden werden.“ Es gehe darum, die Verfahren der Gewinnung und Ausübung von Macht grundsätzlich zu verändern: Transparenz, Teilhabe, Kommunikation und Mitbestimmung sieht Steingart als die Leitbegriffe dieser stillen Revolution: Diesmal werde sich die Verdrossenheit nicht im Leerlauf der eigenen Befindlichkeit drehen, sondern als Veränderungsenergie wirksam werden.
Konstelliert sich wirklich gerade eine neue Gesellschaftsordnung jenseits klassischer Autoritäten, Dirigismen und starker Führungspersonen nach selbstorganisatorischen Prinzipien? Oder ist nicht eher das Gegenteil der Fall, und der Ruf nach einer starken Hand, nach Protektionismus, Abgrenzung und konzentrierter Macht nimmt zu? Beides ist richtig. Jeder große Trend hat auch einen Gegentrend. Und wie wir nach dem Blick in die Daten wissen, lässt sich das in diesem Fall auch über unterschiedliche Subgruppen erklären, die entgegengesetzte Werte vertreten.
Für den Betrachter der Gesamtlage rückt je nach Aufmerksamkeitsfokus (und je nach eigener Wertebasis) jedoch meist nur eines ins Bewusstsein: entweder die expansive neue Entwicklung („Wir gestalten bottom-up alles selbstständig neu!“) oder die restriktive Gegenbewegung („Es ist wichtig, dass das jemand von oben in die Hand nimmt!“). Beide Pole gleichzeitig bewusst zu halten und damit die gesellschaftliche Spannung wertfrei zu beobachten, ohne verfrühte Spannungsabfuhr durch Handeln, ist weitaus schwieriger. Je nach Blickwinkel stehen daher entweder Ohnmacht und Hierarchiegläubigkeit im Vordergrund – oder der Aufbruch in ein neues spannendes Miteinander.
Selbstorganisationsstrategien könnten dabei durchaus das adäquate Mittel für unsere Zeit sein. In seinem Buch „Beschleunigung“ beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa das „Driften“ als mögliche Reaktion „spätmoderner Subjekte auf die komplexe tosende Welt”. Der Drifter lasse sich einfach vom Strom des Lebens mitreißen, wolle nicht kontrollieren, planen und steuern, sondern stattdessen ein situatives Selbst entwickeln. Das stellt die berechtigte Frage in den Raum: Welchen Impact und Verbreitungsgrad können selbstorganisierte Individuen mit einem großen Grad an Selbstverantwortung haben? Wie steht es um Dauer und Verbindlichkeit solcher Ansätze für eine langfristige Entwicklung? Und was bedeuten sie in der Praxis?