Selbstorganisation formt unsere Zukunft

Selbstorganisation kann im Außen wie im Innen stattfinden – auf individueller Ebene ebenso wie in größeren Gruppen und Bewegungen. Lesen Sie, wie sich der Mindshift seinen Weg bahnt. Ein gekürzter Auszug aus der Studie “Next Germany

Von Kirsten Brühl

StockSnap / Edu Lauton / CC0

„Was können wir tun?“ Diese Frage stellen sich im Wahljahr 2017 in Deutschland nicht nur Politiker. Angesichts von Brexit und dem Machtwechsel in den USA ist die Sorge um die tiefgreifende Veränderung der Welt und unserer Gesellschaft breitenwirksam geworden. Und sie findet an vielen Stellen Ausdruck in dem zunehmenden Wunsch, aktiv etwas zu verändern. Doch wie kann man das Richtige tun in einer Welt, deren Dynamik man nicht vollends erfasst hat und für deren neue Muster es nur wenig befriedigende Erklärungen zu geben scheint?

Handeln ohne Orientierung und Überblick könnte sich als gleichermaßen naive Strategie erweisen wie endloses Nachdenken, ohne ins Tun zu kommen – so wie beim Schreiben von Berichten oder endlosen Diskussionen auf den Panels dieser Welt. Denn auch das reine Erforschen von Ursache-Wirkung-Zusammenhängen bringt wenig Orientierung in einer hochgradig vernetzten „VUCA“-Welt: einer Welt, die von einem hohen Grad an Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägt ist, deren Markenzeichen also unerwartete Richtungswechsel sind.

Viele der Veränderungen spielen sich innerhalb der Gesellschaft ab, andere eher noch auf individueller Ebene. Dazu gehören Rollenvorstellungen, die sich subtil verändern, modifizierte Erwartungen an Leben und Karriere sowie eine neue Lust, sich selbst abseits rein funktionaler Selbstoptimierung zu entwickeln. Diese Phänomene haben oft (noch) keine gesellschaftliche Breitenwirkung, deuten aber hin auf mögliche Entwicklungen in Richtung eines „progressiven Wir“.

In der Zusammenschau aller Frühanzeichen für Veränderung lässt sich das Muster erkennen, das sich auch in der Auswertung der nextpractice-Daten abzeichnet: Das „Prinzip Selbstorganisation“ prägt sich stärker aus. Abseits institutioneller Akteure und politischer Vorgaben scheint es zunehmend Raum zu greifen, gekoppelt mit einem höheren Grad an Selbstverantwortung. Als Ergebnis entstehen schon heute abseits des bestehenden Wertepatts erste „progressive Wirs“, die andere Formen von Solidarität und Gemeinsamkeit hervorbringen.

Selbstorganisation ohne schützendes Netz kann je nach Perspektive auch schnell als neoliberales Agieren verstanden werden – und die Situation noch verschärfen. So beschreibt etwa der Ökonom und Soziologe Oliver Nachtwey den Übergang zum neu gestalteten deutschen Sozialstaat in der „regressiven Moderne“, jenseits des paternalistischen Fürsorgeprinzips – und macht aufmerksam auf die Bewertung der dabei dominanten Begriffe:

„Eigenverantwortung war nicht länger ein Begriff für den Anspruch auf ein selbstverantwortetes Leben, sondern wurde vornehmlich zu einer Vokabel sozialer Disziplinierung (...) Nur jene Individuen – vor allem aus der Mittel- und Oberschicht –, die sich konform verhalten und nicht auf den Sozialstaat angewiesen sind, denen es also nicht schwerfällt, die Herausforderung der Eigenverantwortung zu schultern, bleiben frei von neopaternalistischen Zumutungen und erfahren einen realen Zugewinn an Autonomie.“


Jede Zukunftsvision, die auf Selbstverantwortung setzt, darf diesen Umstand nicht aus dem Auge verlieren.

Vertrauen ins System: Mehr Eigenverantwortung

Klaus Schwab, der Chef des Weltwirtschaftsforums, untersucht in seinem Buch „Die Vierte Industrielle Revolution“ deren potenzielle Auswirkungen auf Unternehmen, Staaten, Länder, die Gesellschaft und den Einzelnen. Auch er sagt: „Eine der weitreichendsten Veränderungen in all diesen Bereichen wird auf eine einzelne Kraft zurückzuführen sein: Empowerment.“ Die Ermächtigung bzw. Befähigung zur Selbstbestimmung verändere alles: das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern, zwischen Unternehmen und ihren Mitarbeitern, zwischen Aktionären und Kunden sowie zwischen Supermächten und kleineren Ländern. Die disruptive Wirkung dessen, was Schwab die „Vierte Industrielle Revolution“ nennt, werde es nötig machen, dass sich „ermächtigte Akteure“ als Teile eines weitverzweigten Machtsystems verstehen, das nur mit kooperativeren Formen der Interaktion erfolgreich sein kann.

Selbstorganisation als Prinzip, Selbstverantwortung als Impuls von innen und aktive Einmischung als Ausdruck einer wachsenden Ungeduld – das konstatiert auch „Handelsblatt“-Herausgeber Gabor Steingart in seinem Buch „Weltbeben. Leben im Zeitalter der Überforderung“. Im Kapitel zur Demokratie – Untertitel: „Aufstand der Bürger“ – schreibt er: „Der kommende Aufstand wird einer sein, der den Westen Es zeigen sich bereits die Umrisse einer Gesellschaft, die Ihr Schicksal in die Hand nehmen will mehr verändert als alle Wahlen der vergangenen Jahrzehnte. Im Zentrum dieser Veränderung stehen keine Partei oder Religion, kein Führer oder Guru, sondern ein selbstbewusstes Bürgertum, das den Umsturz jener Verhältnisse will, die als widrig empfunden werden.“ Es gehe darum, die Verfahren der Gewinnung und Ausübung von Macht grundsätzlich zu verändern: Transparenz, Teilhabe, Kommunikation und Mitbestimmung sieht Steingart als die Leitbegriffe dieser stillen Revolution: Diesmal werde sich die Verdrossenheit nicht im Leerlauf der eigenen Befindlichkeit drehen, sondern als Veränderungsenergie wirksam werden.  

Konstelliert sich wirklich gerade eine neue Gesellschaftsordnung jenseits klassischer Autoritäten, Dirigismen und starker Führungspersonen nach selbstorganisatorischen Prinzipien? Oder ist nicht eher das Gegenteil der Fall, und der Ruf nach einer starken Hand, nach Protektionismus, Abgrenzung und konzentrierter Macht nimmt zu? Beides ist richtig. Jeder große Trend hat auch einen Gegentrend. Und wie wir nach dem Blick in die Daten wissen, lässt sich das in diesem Fall auch über unterschiedliche Subgruppen erklären, die entgegengesetzte Werte vertreten.

Für den Betrachter der Gesamtlage rückt je nach Aufmerksamkeitsfokus (und je nach eigener Wertebasis) jedoch meist nur eines ins Bewusstsein: entweder die expansive neue Entwicklung („Wir gestalten bottom-up alles selbstständig neu!“) oder die restriktive Gegenbewegung („Es ist wichtig, dass das jemand von oben in die Hand nimmt!“). Beide Pole gleichzeitig bewusst zu halten und damit die gesellschaftliche Spannung wertfrei zu beobachten, ohne verfrühte Spannungsabfuhr durch Handeln, ist weitaus schwieriger. Je nach Blickwinkel stehen daher entweder Ohnmacht und Hierarchiegläubigkeit im Vordergrund – oder der Aufbruch in ein neues spannendes Miteinander.

Selbstorganisationsstrategien könnten dabei durchaus das adäquate Mittel für unsere Zeit sein. In seinem Buch „Beschleunigung“ beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa das „Driften“ als mögliche Reaktion „spätmoderner Subjekte auf die komplexe tosende Welt”. Der Drifter lasse sich einfach vom Strom des Lebens mitreißen, wolle nicht kontrollieren, planen und steuern, sondern stattdessen ein situatives Selbst entwickeln. Das stellt die berechtigte Frage in den Raum: Welchen Impact und Verbreitungsgrad können selbstorganisierte Individuen mit einem großen Grad an Selbstverantwortung haben? Wie steht es um Dauer und Verbindlichkeit solcher Ansätze für eine langfristige Entwicklung? Und was bedeuten sie in der Praxis?

Matrix der Selbstorganisation / Zukunftsinstitut

Neue Akteure: Wir alle

Gesellschaftliches Lernen erfolgt nicht mehr primär über eher langsam getaktete Institutionen und auf Grundlage von Gesetzen, vordefinierten Prozessen und eingespielten Strukturen. Stattdessen sehen wir eine Vielzahl an Experimenten, bewusste und offene Suchprozesse und gemeinschaftliche Versuche, das Neue zu erproben. Deshalb wird der Prototyp des wissenden „Experten“ in Zukunft immer öfter den neuen Typus des „neugierigen Experimentierers“ an die Seite gestellt bekommen.

Schon heute sucht eine Vielzahl von Initiativen, Menschen und losen Organisationen ihren Ausdruck von Freiheit im temporären Handeln, im Tun, abseits großer Weltentwürfe und klassischer Institutionen. Das bringt eine Vielfalt und Gleichzeitigkeit verschiedenster Lösungsansätze hervor und lässt neue Koalitionen und Kollaborationen entstehen, etwa Public-Private-Partnerships. Allerdings verlangt ein solches Vorgehen den inneren Abschied von der „großen Lösung“ und vom „starken Anführer“ – und es darf ebenso wenig umkippen in ein reines Beschwören von Selbstverantwortung, das sich für viele Menschen als heillose Überforderung entpuppt.

Einfach mal machen - und dabei neu denken lernen 

Solange sich unsere innere Haltung nicht ändert, können wir nichts wirklich Neues tun. Wie wichtig das Integrieren von neuen Erfahrungen und neuem Denken ist, sieht man auch daran, dass viele Think Tanks inzwischen „Think-and-Do Tanks“ heißen. Dass mentale Updates und neue innere Landkarten für die Realität die Basis jeglichen Lernens sind, weiß man schon lange. Peter M. Senge sprach bereits 1990 als Direktor des Center for Organizational Learning an der MIT Sloan School of Management von „mentalen Modellen“, die unbewusst, unhinterfragt und oftmals stillschweigend vorausgesetzte Grundannahmen für unsere Wahrnehmung sind, unser Handeln steuern und zum Lernen angepasst werden müssen.

Paradigmenwechsel: Eine neue Sicht auf die Welt

Das Update mentaler Modelle braucht viel „Futter“ von außen, Geschichten über andere und neue Welten. An vielen Stellen in Deutschland fehlt es jedoch noch an Beispielen, an neuen Geschichten über das Gelingen – und zwar ohne Helden, Vaterfiguren und einen allmächtigen Staat, sondern besetzt mit vielen Mutigen, die etwas in Gang setzen, neue Bindungen und Verbindungen schaffen, sich dabei reflektieren und dem einsetzenden Prozess der Selbstorganisation vertrauen. Um dies zu initiieren, braucht es Mut und Entschlossenheit.

Wir müssen, so auch das Fazit von Carolin Emcke in ihrer Rede zum Deutschen Friedensbuchpreis, eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft nicht nur proklamieren, Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut sondern sein. Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut – und Demokratie ist keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit Ungewissheiten und Kritik. Das allerdings müssen wir an vielen Stellen erst wieder neu lernen, in Schulen, Universitäten, Unternehmen: mit Respekt zuhören, im Spannungsfeld wacklig gewordener Identitäten etwas wagen – und die Unsicherheit des nächsten Schritts aushalten.

Im besten Fall also ist das Prinzip Selbstorganisation eine Einladung an uns alle, gemeinsam das freie Feld der Möglichkeiten zu erkunden, eine Aufforderung, unsere mentalen Modelle zu überdenken und mutig das eine oder andere Experiment zu wagen – und dabei im Blick zu behalten, dass Selbstverantwortung nicht zwingend Vereinzelung bedeutet und auch Befähigung braucht. Es wäre allerdings vermessen zu glauben, dass der reine Blick auf die Kräfte, die vorwärts drängen, ausreichen würde.

Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus der Studie “Next Germany”.

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Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

Dossier: Wir-Gesellschaft

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Die neue Macht des „Wirs“ ist nicht mehr zu übersehen: Überall bilden sich neue Formen von Gemeinschaften, Kollaborationen und Kooperationen – „progressive Wirs“, die auch neue Alternativen im Zeichen einer gespaltenen Gesellschaft eröffnen. Wie wird die Wir-Gesellschaft von morgen aussehen – und welche Konsequenzen hat diese Entwicklung für eine zukunftsweisende Aufstellung von Organisationen?

Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Kirsten Brühl

Kirsten Brühl analysiert als Expertin und Keynote Speaker die Transformation der Arbeitswelt sowie den Change von New Work, Leadership und Wir-Kultur.