Collaborative Living: Wohnen wird dezentral

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Im Netzzeitalter haben wir durch Soziale Medien das Teilen und Tauschen gelernt und verinnerlicht. Nun übertragen sich diese kollaborativen Kulturtechniken auch auf das Wohnen. Verfügbarkeit und Zugang statt Besitz zeichnen diesen Shareness-Trend aus und stellen damit auch unsere bisherigen Wohnvorstellungen auf den Kopf: Zukünftig leben wir nicht mehr in vollständig ausgestatteten Wohnungen, sondern beschränken den privaten Wohnraum nur auf das persönlich Wichtigste und die täglich notwendigsten Wohnfunktionen – während andere einfach „ausgelagert“ werden. Wohnen wird dezentral!

Schon jetzt stellt man fest: Bei Alleinwohnenden oder auch bei Menschen, die beruflich viel unterwegs sind, bleibt die Küche zuhause oft kalt; gegessen wird außerhalb. Will man einmal wieder in die Rolle des Gastgebers schlüpfen und für Freunde den Kochlöffel Wohnqualität definiert sich in Zukunft über zusätzliche Nutzungsoptionen und flexible Wohnmöglichkeiten innerhalb von Häusern und Quartieren schwingen, mietet man sich zukünftig eine Küche, anstatt in einen großen Kühlschrank und überdimensionalen Designertisch zu investieren. Und wer lieber das Day-Spa als Oase der Ruhe und Reinheit vorzieht, wird auch keine Badewanne mehr zuhause benötigen. Die „outgesourcten“, gemeinschaftlich, aber unabhängig genutzten Wohnfunktionen sind die Bausteine von Collaborative Living. Wohnqualität definiert sich in Zukunft nicht mehr über die Größe und die Ausstattung einer Wohnung, sondern über die zusätzlichen Nutzungsoptionen und flexiblen Wohnmöglichkeiten innerhalb von Häusern und Quartieren.

Kollaborative Räume

Die Wohnhäuser der Zukunft sind mehr als Container, in denen sich Wohneinheit über Wohneinheit stapelt. Sie werden zu einem Lebensraum, der einer großen Vielfalt von Lebensstilen ein Dach über dem Kopf bietet. Erste Schritte hin zu einem solchen holistischen Wohnprogramm gehen kleine, private Baugruppen: Nicht nur Wohnungen, sondern das ganze Haus wird als flexibles Raumsystem gedacht. Familien brauchen andere Freiräume als Wohngemeinschaften. Alleinlebende bevorzugen zwar eine Wohnung als hochprivate Zone, legen oft aber Wert auf ein reges Miteinander innerhalb der Hausgemeinschaft.

Dass aus Familien Alleinwohnende werden können oder Patchwork-Familien entstehen, das wird bei der Planung der zukünftigen Wohngebäude bedacht: Durch bei Bedarf zuschaltbare Räume für einzelne Wohnungen und gemeinschaftlich genutzte Bereiche entstehen kollaborative Räume, die einen großen Mehrwert für viele Lebensstile bieten. Gerade in Baugruppen-Projekten, bei denen sich Privatpersonen für den Bau eines Wohnhauses in der Stadt zusammenschließen, werden die unterschiedlichen Bedürfnisse von wechselnden Lebensmodellen baulich umgesetzt: Kindergarten, gemeinsamer Dachgarten, ein Gästezimmer für das ganze Haus, gemeinschaftlicher Workspace oder Kleinstwohnungen für pflegebedürftige Angehörige sind in diesen Neubauten zu finden. Kollaborative Räume haben aber nichts mit dem gemeinschaftlichen Wohnen in einer WG zu tun, sondern folgen der Logik, bei Bedarf eine Erweiterung der privaten Bereiche zu bieten.

Ausgelagerte Nutzungen

Gerade in Japan, wo meisterhaft viel Raum auf wenig Fläche erzeugt wird, entstehen derzeit spannende Architekturexperimente, die für das Trendfeld Collaborative Living relevante Beispiele sind. Der Grund, warum man in Tokio viel experimenteller neue Wohnformen baut, ist einfach: Hier steht ein Gebäude durchschnittlich nur 26 Jahre, in Deutschland sind es über 70 Jahre. Die Wohn- und Stadtstruktur kann also wesentlich schneller auf gesellschaftliche Bedürfnisse und Veränderungen reagieren. Sie entspricht eher einem Bauen für Lebensabschnitte und ist durch diese Agilität insgesamt wesentlich resilienter.

Stefan Gruber, Architekt und Professor an der Akademie der bildenden Künste Wien, beschreibt die japanische Wohnkultur: „Auf einer systemtheoretischen Ebene bietet das Netzwerk als Organisationsstruktur Das Netzwerk als Organisationsstruktur verbindet Flexibilität und Robustheit und bewahrt trotz kontinuierlicher Veränderung und Innovation eine beständige Identität für Tokios Stadtmorphologie wie für Unternehmen der vernetzten Wirtschaft die Fähigkeit, Flexibilität und Robustheit zu verbinden und so trotz kontinuierlicher Veränderung und Innovation eine beständige Identität zu wahren.“ Er spricht dabei die „gewohnte“ Kultur in dem Land an, Nutzungen auszulagern. Das öffentliche Badehaus beispielsweise war ein Ort des Zusammentreffens, wie es der Marktplatz in Europa ist. Und nicht ohne Grund sind Karaoke-Bars oft eingerichtet wie Wohnzimmer. Denn in den regulären Wohnungen gibt es keinen Raum, der Platz für eine größere Menge an Gästen bietet.

Das Moriyama House in einem Vorort von Tokio bietet sowohl Begegnungsräume für ein gemeinschaftliches Miteinander als auch individuelle Rückzugsmöglichkeiten. Sein polyzentrisches Raumgefüge aus zehn einzelnen Baukörpern bildet kein Zentrum und zieht keine Grenzlinie. Eigentlich wollte der Bauherr nur eine Wohnung für sich und eine weitere Einheit zum Vermieten. Doch der Architekt Ryue Nishizawa baute ihm eine Miniatur-Stadt. Die Baukörper beherbergen sowohl gemeinschaftlich genutzte Bereiche, Küchen und Bäder, als auch die privat genutzten Zimmer. Alle sind mit dem Außenraum, dem Garten und Ort der Gemeinschaft, verbunden. Er ist das aktive Bindeglied der Häuser und zentraler Bestandteil des kollaborativen Wohnkonzeptes Moriyama House: Jeder Bewohner verfügt über einen klar definierten Bereich, der aber, anders als abgetrennte Geschosswohnungen, mehr Möglichkeiten des Miteinanders bildet. Denn nur wenige Raumnutzungen, wie Küche und Bäder, sind festgelegt. Wie man die restlichen Räume nutzt, das kann situativ nach Bedarf entschieden werden. So bietet das Wohnhaus ausreichend Platz für verschiedene Lebensstile und -phasen. Über einen langen Zeitraum und ohne dass ein Umzug oder Umbau erforderlich ist.

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Dossier: Wohnen

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