Die Zukunft des Zusammenhalts

Wie kann die Stärkung sozialer Verbundenheit in einer vernetzten Gesellschaft gelingen? Die Suche nach Antworten führt zurück zu den Wurzeln der Sozialität. – Gekürzter Auszug eines Artikels von Christian Schuldt aus dem Zukunftsreport 2023.

Die Angst vor der „Erosion des sozialen Zusammenhalts“ ist – laut dem World Economic Forum – die am schnellsten wachsende Sorge weltweit: Rund 90 Prozent der Befragten blicken diesbezüglich pessimistisch in die Zukunft. Befunde wie diese spiegeln ein Phänomen, das sich längst im Mainstream der öffentlichen Debatte etabliert hat: die Rede von der „gespaltenen Gesellschaft“. Allerdings stellen Soziologen wie Steffen Mau, die intensiv zur gesellschaftlichen Spaltung forschen, schon länger fest: „Wir haben radikale Ränder. Aber deshalb ist unsere Gesellschaft noch nicht gespalten.“ Faktisch beobachtbar seien lediglich „unsettled conflicts“, weil sich Themen und Debatten neu strukturieren. Auch die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky kommt zu dem Schluss: „Spaltung und Polarisierung sind Metaphern für Dynamiken, die sich in der empirischen Forschung meist als wesentlich komplexer darstellen“.

Damit ist bereits der erste Grund genannt, warum die Spaltungsbehauptung so erfolgreich ist, obwohl ihm die empirische Entsprechung fehlt: Sie lebt von der Macht der Metapher, des Narrativs. Menschen lieben einfache Erzählungen, die eine unübersichtliche Wirklichkeit handhabbar machen. Vor allem alarmistische Narrative verfügen über eine gesteigerte Anschlussfähigkeit und werden deshalb immer wieder medial reproduziert. Steffen Mau zufolge ist die These von der gespaltenen Gesellschaft ein „Angstszenario“, das „immer wieder ungeprüft nacherzählt“ wird. Antrieb erhält es durch die großen Krisen unserer Zeit, die Radikalisierung fördern und neue Ängste vor gesellschaftlichen Verwerfungen schüren, sowie vom angstvollen Blick auf die USA, wo sich tatsächlich starke und empirisch gut nachgewiesene Spaltungstendenzen zeigen.

Der zweite, tiefer liegende und „eigentliche“ Grund für den Erfolg der Spaltungserzählung ist die unübersichtliche Wirklichkeit selbst: Unter den Vorzeichen der Vernetzung wird immer deutlicher, dass die Gesellschaft nicht mehr als ein großes Ganzes verstehbar ist, sondern nur noch als dynamischer Zusammenhang des Verschiedenartigen, als Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen. Und je undurchschaubarer und unberechenbarer die Verhältnisse werden, umso attraktiver erscheinen vereinfachende Beschreibungen.

Tribalisierte Teilhabe

Die Vernetzung bewirkt eine Renaissance tribaler, „archaischer“ Formen der Partizipation sowie einen Boom der Affekte – mit konstruktiven wie destruktiven Effekten: Auf der einen Seite stehen die zahlreichen Facetten der „neuen Wir-Kultur“ und das hohe Maß an Solidarität, Empathie und Rücksichtnahme, das Menschen in Krisenzeiten zeigen, etwa während der Flüchtlingswelle oder der Pandemie. Auf der anderen Seite die Verschwörungstheorien und radikalen Gemeinschaften, die ebenfalls im Kontext von Krisen aufblühen. Die zentralen Orte dieser neuen, emotionalen Teilhabe sind die sozialen Medien – in denen das „alte“ Recht auf Inklusion nun umso vehementer eingefordert wird.

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Diese Entwicklung ist, so wie die Vernetzung selbst, kein spezifisch „westliches“ Phänomen, sondern ein globales. Auch im autokratisch regierten China verlieren klassische Institutionen wie Parteien, Familie oder Gewerkschaften an Bedeutung. Der Sozialanthropologe Xiang Biao attestiert der chinesischen Gesellschaft ein „zerrissenes Band“, weil das Gespür des einzelnen Individuums für das unmittelbare soziale Lebensumfeld verloren gehe. Kompensiert wird dieser Mangel an Zugehörigkeit, in Fernost wie in der westlichen Welt, auch mit der rückwärtsgewandten Wiederbeschwörung fiktiver Größen wie Nation und Ethnie: „Make XY great again. Take back control.“

Je deutlicher wird, dass einzelne Systeme von Komplexität überfordert sind, umso mehr muss sich die Aufmerksamkeit nun auf die Schnittstellen und Verbindungen verlagern, aus denen übergreifende Effekte entstehen können: auf interdisziplinäre Allianzen und hybride Organisationsformen, die verschiedene Akteure gemeinsam an einem Strang ziehen lassen. Im Kern geht es um ein neues Zusammenspiel der gesellschaftlich Verantwortlichen – und um Räume, in denen sich verschiedene Eigenlogiken gegenseitig irritieren und abgleichen können.

Von der Theorie zum Tun

Diese neuen Wirklichkeiten lassen sich nicht einfach „einführen“, erst recht nicht in einer vernetzten Gesellschaft, in der jede Form von „Ordnung“ immer ein Resultat von Praxis ist. Um die inklusiven Potenziale der Vernetzung zu erschließen, braucht es deshalb praktische Projekte, die Dialoge und Begegnungen ermöglichen und neue Identitätsangebote vermitteln. Die Basis dafür bildet eine Kultur der „kooperativen Abgrenzung“: Erst die Toleranz unterschiedlicher Perspektiven eröffnet auch Zugänge zu „tiefer liegenden“ Gemeinsamkeiten wie geteilten Werte, Zielen und Wünschen.

Konkrete Beispiele für diese neuen Möglichkeitsräume sind Wertedialoge wie die Z2X-Community oder Initiativen wie „Deutschland spricht“, die Menschen zusammenbringen, um über Politik zu diskutieren. In den USA, wo wohl am ehesten von einer „gespaltenen“ Gesellschaft gesprochen werden kann, bringen die „Braver Angels“ im ganzen Land Menschen in Workshops und Debatten zusammen, um Vorurteile abzubauen und wieder echte politische Debatten zu ermöglichen. Auch die verschiedenen Facetten der Co-Kultur, von Co-Creation über Co-Living bis Co-Working, bieten große Potenziale für die Schaffung eines konstruktiveren Miteinanders.

Damit an solchen Schnittstellen tatsächlich jene sozialen Qualitäten gedeihen können, die einen neuen sozialen Zusammenhalt fördern, muss vor allem die kleinste individuelle Ebene adressiert werden: die persönliche Selbstwirksamkeit. Denn sämtliche soziale Energie speist sich letztlich aus dem Gefühl der individuellen Handlungsfähigkeit. Der größte Feind des sozialen Zusammenhalts ist das Schrumpfen dieser Handlungsspielräume, im schlimmsten Fall das Gefühl der Ohnmacht. Genau deshalb ist der Faktor Freiwilligkeit so entscheidend: Gerade in vernetzten Zeiten können verschiedene Akteure nur dann gemeinsam an einem Strang ziehen, wenn sie nicht gezogen werden.

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Die neue Funktion des Staates

Insbesondere der Staat muss deshalb nachholen, was in der Wirtschaft längst im Gange ist: den Wandel hin zu einer zeitgemäßen Führungs- und Organisationskultur, die Menschen befähigt und ermächtigt. Viele konkrete Ideen und Modelle für eine partizipative Demokratie sind bereits erfolgreich im Einsatz, von Konzepten wie der „Monitorial Citizenship“ über Volksbegehren und -entscheide bis zur Wiederbelebung der Idee der Losdemokratie. Der Wandel von einer rein repräsentativen zu einer partizipativen Demokratie würde die Politik (wieder) anschlussfähiger machen und könnte die Grundlage für ein neues Miteinander legen.

Auch die Idee eines „aktivierenden“ Sozialstaates kann ihre gesellschaftliche Kraft aber nur dann entfalten, wenn sie den Fokus auf die praktische Umsetzung verlagert, auf Erfahrungen, die in der sozialen Alltagspraxis erlebbar werden. Immer wichtiger wird es deshalb, neue Möglichkeitsräume nicht nur zu eröffnen, sondern auch abzusichern. Für den Staat bedeutet das ein neues Bekenntnis zum Auf- und Ausbau verlässlicher Rahmenbedingungen, die es Menschen ermöglichen, frei und freiwillig zu agieren. Im Kern geht es um den Aufbau von Vertrauen: Wer darauf vertrauen kann, als Mitglied einer Gesellschaft nicht „im Stich gelassen“ zu werden, ist offener für das Eingehen neuer Verbindungen. Fehlt dieses Vertrauen, wird eine große Distanz zur „Gesellschaft“ erlebt, die zur Flucht in Parallelwelten und Extreme motiviert.


Diese Vertrauensdynamik, die allem sozialen Handeln zugrunde liegt, gilt es auch zu bedenken beim Umgang mit großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie der aktuellen Energiekrise. Hilfsmaßnahmen wie Tankrabatte, die nicht zuletzt auch Wohlhabende unterstützen, wirken in großen Teilen der Gesellschaft tendenziell vertrauenszersetzend. Das ist umso fataler, als die resilienzfördernde Kraft gesellschaftlicher Zusammengehörigkeitsgefühle gerade in einer Zeit akuter Krisen essenziell ist. Ein konstruktives Gegenbeispiel ist die Idee eines Grundeinkommens, das in großem Umfang abgesicherte Handlungsspielräume schaffen könnte – und so auch Vertrauen generieren würde.

Zurück in die Zukunft

Vertrauen muss sich in der Praxis bewähren, es baut auf Gewöhnung auf – und lebt dabei ganz entscheidend von der sozialen Kraft der Interaktion. Die unmittelbare, körperliche Begegnung bildet eine elementare Infrastruktur für eine funktionierende Demokratie: Nur die physische Interaktion ermöglicht ein gleichräumliches und -sinnliches Wahrnehmen der Umgebung – und damit auch ein „Gefühl der Zusammengehörigkeit“. Die Möglichkeit, einander in die Augen zu schauen, ist demnach die Grundvoraussetzung für den Aufbau von Vertrauen und sozialem Zusammenhalt – was virtuelle Visionen wie das Metaversum geradezu demokratiegefährdend erscheinen lässt.
 
Die Suche nach den Möglichkeiten gesellschaftlicher Verbundenheit in vernetzten Zeiten führt also zurück zu den Ursprüngen menschlicher Sozialität, zur direkten Begegnung. Und sie macht deutlich, dass sich Zusammenhalt immer im Lokalen und Regionalen manifestieren muss, erst recht in globalisierten und krisengeschüttelten Zeiten. Zu den zukunftsweisenden Räumen des Austauschs und der Begegnung zählen deshalb auch jene lokalen Orte und Institutionen, die es schon seit Ewigkeiten gibt, von Dorf- und Stadtteilfesten über Vereine bis zur Kneipenkultur. Die Potenziale für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind also vorhanden – wir müssen nur noch besser darin werden, sie zu erschließen.


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