Diese Entwicklung ist, so wie die Vernetzung selbst, kein spezifisch „westliches“ Phänomen, sondern ein globales. Auch im autokratisch regierten China verlieren klassische Institutionen wie Parteien, Familie oder Gewerkschaften an Bedeutung. Der Sozialanthropologe Xiang Biao attestiert der chinesischen Gesellschaft ein „zerrissenes Band“, weil das Gespür des einzelnen Individuums für das unmittelbare soziale Lebensumfeld verloren gehe. Kompensiert wird dieser Mangel an Zugehörigkeit, in Fernost wie in der westlichen Welt, auch mit der rückwärtsgewandten Wiederbeschwörung fiktiver Größen wie Nation und Ethnie: „Make XY great again. Take back control.“
Je deutlicher wird, dass einzelne Systeme von Komplexität überfordert sind, umso mehr muss sich die Aufmerksamkeit nun auf die Schnittstellen und Verbindungen verlagern, aus denen übergreifende Effekte entstehen können: auf interdisziplinäre Allianzen und hybride Organisationsformen, die verschiedene Akteure gemeinsam an einem Strang ziehen lassen. Im Kern geht es um ein neues Zusammenspiel der gesellschaftlich Verantwortlichen – und um Räume, in denen sich verschiedene Eigenlogiken gegenseitig irritieren und abgleichen können.
Von der Theorie zum Tun
Diese neuen Wirklichkeiten lassen sich nicht einfach „einführen“, erst recht nicht in einer vernetzten Gesellschaft, in der jede Form von „Ordnung“ immer ein Resultat von Praxis ist. Um die inklusiven Potenziale der Vernetzung zu erschließen, braucht es deshalb praktische Projekte, die Dialoge und Begegnungen ermöglichen und neue Identitätsangebote vermitteln. Die Basis dafür bildet eine Kultur der „kooperativen Abgrenzung“: Erst die Toleranz unterschiedlicher Perspektiven eröffnet auch Zugänge zu „tiefer liegenden“ Gemeinsamkeiten wie geteilten Werte, Zielen und Wünschen.