Ist es nicht seltsam, ja geradezu bizarr, wie hartnäckig wir unser Zeitgefühl in Jahrzehnten fixieren? Die 60er, 70er, 80er, 90er – rund um die Uhr dudelt im Radio derart katalogisierte Musik, werden Historienfilme und Komödien gedreht, die den Zeitgeist in Zehnjahresscheibchen verherrlichen. Bis alle glauben, Geschichte wäre tatsächlich sauber in Dezimale eingeteilt. Dabei werden oft nur willkürliche Details herausgegriffen: 1920er-Jahre – Pagenköpfe, 1950er – Tütenlampen, 1990er – Kurt Cobains Selbstmord. So versuchen wir, uns die Zeit symbolisch begreiflich zu machen. Weil wir ihre wahrhafte Dimension, ihre Komplexität, nicht begreifen.
Bedenklich ist auch das Naming der Jahrzehnte selbst. Die „Nullerjahre“, das klingt fürchterlich, ein einziges raunendes Nichts. Dabei lässt sich dieses Jahrzehnt in seiner Spannung zwischen 9/11 und Bankenkrise durchaus als erstes Jahrzehnt einer Dekonstruktion begreifen. Es begann die Demontage der linearen Fortschrittsillusionen, der unbeschränkten Globalisierungsökonomie, der US-amerikanischen Prägungsmacht. Ein Trend, der sich in den nun vollendeten Zehnerjahren (was fast so mickrig klingt wie „Nuller“) fortsetzte.
Die gehypten „Zehner“
Die „Zehner“ haben uns Flüchtlingsangst gebracht, kenternde Boote im Mittelmeer, impotenten Brexit und schließlich die Hassinfektionen des bösartigen Populismus, dessen oberster Dschinn Donald Trump uns im kommenden Jahr noch heftig beschäftigen wird. Die Zehner waren auch das Jahrzehnt des Peak Digital und der Spitze des digitalen Populismus. Der digitale Mythos hat uns durch das ganze Jahrzehnt getrieben, mit all seinen Hypes um Künstliche Intelligenz, Smart Living oder Bitcoin- und Blockchain-Mirakel.
Dieser Rausch des „Dataismus“ nahm bisweilen fanatische, mitunter zwanghafte Formen an – bis er in diesem Jahr endlich in das umkippte, was wir im Zukunftsreport 2019 „Techlash“ oder „Digitale Revision“ nannten: Endlich wird ernsthaft über die Schattenseiten der „Wüste Internet“ gesprochen, über die Frage, wie wir Hasskultur und Erregungswahn eindämmen oder die Monopolisten des Digitalen einhegen können. Die Digitalisierung braucht einen zweiten, einen humanistischen Anlauf!
Nach langer Zeit zeigte sich zudem wieder ein Botschafter, vielmehr eine Botschafterin, eines Big Shift, eines großen Wandels. Solche Persönlichkeiten treten immer in Zeiten des Entscheidungsmangels auf, wenn eine große, existenzielle Menschheitsentscheidung nicht wirklich vollzogen ist. „Great Greta“ schloss dieses Jahrzehnt würdig ab, vor allem als sie auf der UN-Vollversammlung den Schlüsselsatz des kommenden Jahrzehnts sprach: „How dare you?“ Wie könnt ihr es wagen, euch in euren alten Weltbildern, Irrtümern, Ignoranzen und falschen Zukünften einzumauern?