Warum jenseits der Links-rechts-Polarisierung das Neo-Progressive gewinnt: Sieben Thesen zur Zukunftspolitik. – Ein Auszug aus dem Zukunftsreport 2019.
Was kommt nach dem Populismus?

Der Populismus ist ein kulturelles und mentales Phänomen. Seine Zukunft entscheidet sich daher in unseren Köpfen. Aber es gibt einen Trick der Geschichte: Wider seine Intention kann der Populismus dazu beitragen, dass die Zukunft besser wird.
These 1: Populismus wird überschätzt
Mit Donald Trump begann der aktuelle Siegeszug des neuen globalen Populismus, die Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten in Brasilien Ende Oktober 2018 markierte einen vorläufigen Höhepunkt. Doch betrachtet man insgesamt die Entwicklung der Populisten, dann sind ihre Wahlergebnisse rückläufig. Ausnahmen gibt es noch, wo es Strategien der medialen Dauererregung und Hyperventilierung leichter haben. Sie fördern einen Populismus, der vor allem ein Erregungsphänomen ist.
Der Populismus ist eine Erscheinung, die kommt und geht. Die eigentliche Herausforderung ist die Komplexität der Politik. Damit moderne Politik, Wirtschaft und Gesellschaft funktionieren können, braucht es Störungen von außen. Herausforderungen, an denen komplexe Gesellschaftsordnungen sich weiterentwickeln können.
These 2: Populisten sind wichtige Störer für eine bessere Zukunft
Noch nie wurde über Integration und Zusammenhalt so gestritten wie heute. Bis 2015, dem Jahr der Willkommenskultur, als über eine Millionen neue Geflüchtete nach Deutschland kamen, war Integration nur ein Thema für Minderheiten und Fachleute. Heute spricht das ganze Land darüber, wer bleiben soll und wie Integration besser gelingt.
These 3: Populismus führt zu einer Politik der Heimat und der Glokalisierung
Der Populismus ist eine Antwort auf den Megatrend der Globalisierung und des mit ihm verbundenen Gefühls von Heimatverlust. Er setzt auf Renationalisierung, Abschottung und Protektionismus. Aber damit kippt das regressive Konzept des Populismus ins Gegenteil: Nur in offenen Gesellschaften kann Heimatlichkeit gelebt werden – als Globalität vor Ort. Wer Heimat wirklich empfinden will, muss seinen Stammort einmal verlassen haben.
These 4: Populismus führt zu einem Anstieg der Bevölkerung
Das Denken in linearen Entwicklungen zählt zu den zentralen populistischen Irrtümern. Die Geburtenraten steigen aktuell ebenso wie die Einwohner – nicht nur wegen der Zuwanderung. Der erwartete Bevölkerungsrückgang bleibt aus. Je offener und fairer eine Gesellschaft ist, desto mehr Kinder und Staatsbürger hat sie. Auch die Zahl der Einbürgerungen steigt seit Jahren. Damit fällt auch jene „Überalterung“ aus, auf die Populisten als Lebensgefühl von Verbitterung setzen. Die Gesellschaft wird durch Zuwanderung wieder jünger – und dadurch weniger altersgrantig.
These 5: Der rechte Populismus wird die Gesellschaft nach links verschieben
Die neue Große Koalition aus CDU/CSU und SPD ist eine Regierung der sozialen Wohltaten und Investitionen. So viele Milliarden für Rente, Kinder, Familien, Arbeitslose und Wohnungen hat noch keine Koalition vor ihr ausgegeben. Die Sozialdemokratisierung der Republik schreitet voran. Der rechte Populismus verschiebt die Gesellschaft weiter nach links. In ihrer bald 15-jährigen Kanzlerschaft hat Angela Merkel SPD und Grünen ein Thema nach dem anderen abspenstig gemacht – Energiewende, Abschaffung der Wehrpflicht, Willkommenskultur, Integration. Der deutsche Durchschnittswähler sieht sich heute eher links von der Mitte, so der Befund der Demoskopen (vgl. Güllner 2017). Auch in Amerika zeichnet sich nach der großen Polarisierung der Trump-Jahre eher eine Tendenz nach links ab.
These 6: Der autoritäre Patriotismus führt zu Neuropa
Donald Trumps „America First“-Getobe hat in Europa dazu beigetragen, die wahren Vorteile von transnationaler Kooperation zu erkennen – einschließlich dem Willen zum freundlichen Kompromiss. Der Triumph des rüden Demagogen hat nicht zu weniger, sondern zu mehr Europa geführt. Der autoritäre und illiberale Populismus führt zu einer Stärkung der „europäischen Souveränität“ (Macron). Erfolgreiche Parteien kämpfen für ein besseres Europa: ein Neuropa, das allen Bürgern nützt und sie schützt.
These 7: Der Populismus führt zu einer bürgernäheren Demokratie und zu einer neo-progressiven Bewegung
Fragt man die Bürger heute, was sie am meisten im politischen Diskurs vermissen, sagen sie oft: Konstruktivität. Eine Mehrheit hat inzwischen die ewige Zuspitzung und Polarisierung satt. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass es nicht mehr um die Lösungen geht, sondern nur noch um die Ausbeutung der Probleme. Dass die Medien nur noch Negativität und Alarmismus verbreiten. Sie sehnen sich nach mehr Optimismus. Und nach charismatischen Persönlichkeiten, die Widersprüche versöhnen und die Energien nach vorn lenken. Nach dem höhnischen Triumph der Reaktionäre hat das Zeitalter der Neo-Progressiven begonnen. Sie setzen auf eine Politik des wechselseitigen Commitments und Gehörtwerdens. Neo-Progressive verkörpern einen unternehmerischen Politikertyp. Bürger sind für sie keine Kunden, sondern Partner.
Ein gekürzter Auszug aus dem Zukunftsreport 2019.
Literatur:
Dettling, Daniel: Neuropa en marche. Eine Abhängigkeitserklärung. In: Zukunftsinstitut (Hg.): Zukunftsreport 2018, S. 92–99
Deutsche Post: Glücksatlas. Bonn 2016
El-Mafaalani, Aladin: Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln 2018
Güllner, Manfred: Der vergessene Wähler. Vom Aufstieg und Fall der Volksparteien. Baden-Baden 2017
Kretschmann, Winfried: Worauf wir uns verlassen wollen. Für eine neue Idee des Konservativen. Frankfurt am Main 2018
Lilla, Mark: Der Glanz der Vergangenheit. Über den Geist der Reaktion. Zürich 2018
Lutz, Martin: Kriminalität geht in Deutschland so stark zurück wie seit 1993 nicht. In: welt.de, 21.4.2018